Dafür statt dagegen

Tokio Hotel und der Wandel popkultureller Zeichen



Das Beispiel der deutschen Boygroup Tokio Hotel zeigt: Die einst subversive Symbolik der Popkultur verliert sich in den Posen eines pubertären «radical chic». Kritik und Subversion manifestieren sich im Pop heute eher in der Gegen-Ökonomie von Nischen.

 

Als die Début-Single «Durch den Monsun» der Rock-Boygroup Tokio Hotel vor wenigen Wochen herauskam, stürmte sie in die Spitzen der Charts. Nun sind erfolgreiche Boygroups nichts Neues. Auffällig an dieser Band, deren Vermarktung sich vor allem um die 16-jährigen Zwillinge Bill und Tom Kaulitz dreht, ist jedoch Folgendes: Über das Quartett verstreut finden sich alle Symbole und Zeichen, die in der Popmusik jemals mit Subkultur und Rebellion konnotiert waren: die Lederjacke aus dem Rock; die zerfetzte Jeans aus dem Punk; die mit Kajalstift umrandeten Augen aus dem New Wave; die Dreadlocks aus dem Reggae. Tokio Hotel gehört jedoch zu keiner Subkultur, die Band operiert musikalisch im Mainstream. Auch um eine politische Aussage geht es der Band nicht. Die subkulturellen Zeichen sind hier all das nicht mehr, was sie einmal waren: subversiv.


1995 konnte die deutsche Indie-Band Tocotronic noch ironisch singen: «Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein (. . .) Und jede unserer Handbewegungen hat einen besonderen Sinn.» Zehn Jahre später ist dieser «besondere Sinn» der Zeichen verschwunden. Politische und subkulturelle Symbole werden in einem pubertären radical chic entschärft. «Die Popmusik ist in einer Phase angelangt, in der das Zeichen nicht mehr auf seine Bedeutung verweist, sondern geil ist, weil es wohlgeformt ist», sagt der Musikkritiker Diedrich Diederichsen. «Busted waren vor einem Jahr die Ersten, die als Boygroup den Schritt von choreographierter Werbung zu Punk eingeleitet haben. Tokio Hotel ist nun die Perfektion dieser Voraussage.» Die Zeichen der Rebellion sind kommerzialisiert. Auch die amerikanische Band Green Day schmückte ihr letztes Album, «American Idiot», mit subversiven Zeichen der Punk- Ästhetik, ihr Rock allerdings tönt geradezu säuberlich brav. Auch Green Day geht es eben weniger um Rebellion als um ein schickes Profil.

Gehen Pop und politisches Aufbegehren getrennte Wege? Oder muss man die kritischen Elemente der Popkultur an neuer Stelle suchen? Zunächst einmal kann man feststellen, dass sich die Beziehung von Pop und Politik verändert hat. Noch Anfang der neunziger Jahre haben Bands wie Rage Against the Machine oder Asian Dub Foundation Brücken zwischen Musik und Aktivismus geschlagen, indem sie ihre Auftritte und Videos dazu nutzten, auf soziale Missstände aufmerksam zu machen. Heute dagegen ist selbst im Hip-Hop, jener Musik, die einst den Rassismus anprangerte, das politische Engagement schal geworden. Es bleibt heute wenig mehr als das Winken mit Dollarnoten, das Präsentieren fetter Schlitten, grosser Villen und cooler Bräute, die man aufgrund seines Erfolges abkriegt. Kein Wunder, wenn die englische Indie-Band Art Brut singt: «Popular Culture no longer applies to me» - Popkultur spricht mich nicht mehr an.

Man muss einen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse werfen, wenn man verstehen will, welche Beziehung heutzutage zwischen Popmusik und Politik besteht. Denn freilich hat sich in den letzten Jahrzehnten die Rolle der Popmusik in der Gesellschaft verändert - auch weil sich unsere Gesellschaft verändert hat. Heute verteidigt keine ältere Generation mehr ihren Gesellschaftsentwurf gegen den einer jüngeren. Der Kampf der Generationen, jener Kampf, zu dem Popmusik lange so etwas wie einen Soundtrack beisteuerte - 1965 beispielsweise The Who mit «My Generation» -, dieser Kampf ist zu Ende. Der Unterschied zwischen den Generationen verwischt zunehmend, ein Umstand, der in den letzten Jahren immer wieder diskutiert worden ist - Claudius Seidl etwa hat in seinem Buch «Schöne neue Welt» das Ende der «Herrschaft der alten Lebensblaupausen» behauptet. In der heutigen, flexibleren, pluralistischen Welt ist die ältere Generation selbst konstant damit beschäftigt, irgendwie irgendwo anzukommen. Folglich ist Pop auch keine Jugendkultur mehr, im Gegenteil: Heute hören Mutter und Tochter zusammen Destiny's Child. Popmusik ist quasi erwachsen geworden, seit keiner mehr erwachsen werden kann. Eine auf Rebellion programmierte Jugendkultur ist damit am Ende.


Zudem hat sich die Medienlandschaft verändert: Die Pluralisierung hat nicht nur unsere Gesellschaft erfasst, sie spiegelt sich auch in unseren Medien. Gleich ob Radio, Fernsehen oder Internet - in den letzten zwanzig Jahren haben sich die Medienkanäle überall diversifiziert. Die Zielgruppe ist an die Stelle der Öffentlichkeit getreten. Man steht nicht mehr vor einem übermächtigen Mainstream. Wenn das alte Konzept einer Popmusik als Sender der Gegenöffentlichkeit neu justiert werden muss, dann darum. Und auch deshalb funktioniert Popkultur heute nach anderen Regeln. «Es kann nicht mehr darum gehen, zu schocken», erklärt die Jugendkultur-Expertin Birgit Richard. «Die Abgrenzung wird deshalb über Kleinigkeiten praktiziert, deren feine Differenzen für Aussenstehende nur schwer zu erkennen sind.» Die Folge: Kritik ist nicht mehr so laut und nicht mehr so gut sichtbar. Dennoch werden politische Anliegen verhandelt.

Die Kunst dieser feineren Differenzen kann man derzeit an der sogenannten Wierd-Folk- Szene beobachten, zu deren bekannteren Figuren das Duo Coco Rosie oder der Sänger Devendra Banhart gehören. Ihre zarten, verspielten Stücke erzählen vom Rand unserer Gesellschaft, sie thematisieren Rassismus, Unterdrückung und fanatische Religiosität - ohne jedes Zeichen expliziter Rebellion. Das Risiko dieser leiseren Kritik besteht allerdings darin, übersehen zu werden.

Der Singer/Songwriter Adam Green, der in den letzten Jahren von sich reden machte, ist mit seiner Rolle des netten, verwirrten Poeten problemlos in unser tägliches Medienspektakel integriert worden. Dass sich um ihn eine Gruppe junger Leute formiert hatte, die auf die derben Lebensbedingungen in einer überteuerten Stadt wie New York aufmerksam machen wollten, wurde kaum wahrgenommen. Adam Green konnte überall auftreten, der Rest der Gruppe aber verlief sich in alle Winde, die meisten Musiker verschwanden nach kurzem Hype von der Bildfläche. Im Grunde machte hier der Gestus des Anti-Establishments der eigenen Bewegung einen Strich durch die Rechnung. Der Hype hat seine Protagonisten mehr oder weniger überrollt. Er wurde weder selbst gesteuert noch an die eigene Nische zurückgebunden.

Der Wierd Folk um Coco Rosie und Devendra Banhart scheint dagegen von Hip-Hop gelernt zu haben, dass man sich nicht nur kulturell, sondern auch ökonomisch eine eigene Nische sichern muss. Man tourt zusammen, unterstützt sich gegenseitig bei Produktionen und hat mit Voodo- Eros vor kurzem ein eigenes Label gegründet. Kurz: Man pflegt das eigene Umfeld. Auch an den englischen Gitarrenbands kann man ein Wissen um die Wichtigkeit der Nische beobachten: Die neue Independent-Kultur ist hier von einer kühnen Ethik getragen, es heisst: «Get up and go and do it yourself.» Man erwartet nicht mehr, von einer Plattenfirma entdeckt zu werden, sondern spielt auf sogenannten Guerilla-Gigs in Wohnungen von Freunden und vermarktet sein Album über seine Website: «Hört auf, Alben in den Supermärkten zu kaufen, schaut uns an - wir haben eine Band gegründet», proklamiert sinngemäss Art Brut.

Pop und Politik gehen heute eine neue Beziehung ein. Die laute Rebellion ist von einer leiseren Form des Aufbegehrens abgelöst worden. An die Stelle der Gegenkultur tritt die Gegen-Ökonomie der eigenen Nische.

24.11.05 ▪ NZZ