Verdienste, die bleiben

Auch Polen debattiert über Grass

 

Günter Grass' Bekenntnis zu seiner SS-Vergangenheit hat auch in Polen für Aufregung gesorgt. Grass ist hier nicht nur als nobelpreisgekrönter Schriftsteller bekannt, er ist vor allem ein Danziger und dazu noch einer, der sich immer für die deutsch-polnische Versöhnung eingesetzt hat.

Dass der ehemalige Staatspräsident und Solidarnosc-Führer Lech Walesa bereits am Sonntag forderte, Günter Grass solle die 1993 erhaltene Ehrenbürgerschaft der Stadt Danzig wieder zurückgeben, wurde weitum mit Kopfschütteln quittiert. Danziger Politiker und Schriftsteller seien sich einig, dass Grass' SS-Vergangenheit seine Verdienste für die Stadt nicht beeinträchtige, fasst die Lokalzeitung, der «Dziennik Baltycki», die Diskussion zusammen. An eine Aberkennung der Ehrenbürgerschaft denke im Stadtrat deshalb niemand im Ernst. Grass sei schliesslich als 15-Jähriger der Division «Frundsberg» beigetreten, einer Einheit zudem, der keine Kriegsverbrechen nachgewiesen werden konnten. «Seine Verdienste für Danzig und Polen sind so riesengross, eine Jugendsünde können diese nicht ausradieren», sagte der Danziger Stadtpräsident Pawel Adamowicz.

Günter Grass hätte die Ehrenbürgerschaft der Stadt nicht erhalten, wenn sein Dienst in der Waffen-SS damals bekannt gewesen wäre, hält dem Walesa entgegen. Und damit dürfte er Recht haben. Zu schrecklich war die nazideutsche Besatzung in Polen. Es sei unvorstellbar, dass ein SS-Mitglied Ehrenbürger irgendeiner polnischen Stadt sei - und erst recht von Danzig, wo immerhin der Zweite Weltkrieg begonnen habe, giftet auch der rechts-konservative Sejm- Abgeordnete Jacek Kurski. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit will die Affäre offenbar für die im Herbst anstehenden Lokalwahlen aufbauschen.

Die Aberkennung der Stadtbürgerschaft sei kein Patriotismusbeweis, sondern schade einzig Polen und der Stadt Danzig, gibt der Danziger Schriftsteller Stefan Chwin zu bedenken, der sich im Gegensatz zu dem mit Grass befreundeten Pawel Huelle kritisch über das sechzig Jahre aufgeschobene Geständnis äusserte. Chwin vermutet darin gegenüber der Tageszeitung «Dziennik» nicht zuletzt eine PR-Aktion für Grass' Autobiografie «Beim Häuten der Zwiebel».

 

Paul Flückiger ▪ 16. August 2006 ▪ Neue Zürcher Zeitung