Mit Tweed, Charme und Pfeife

Nur echte Gentlemen sind die eigentlichen Guten. Das war ja schon immer so. Heute kämpft der Brite Gustav Temple für die Re-Zivilisierung der Gesellschaft. Der Stil als Protestform, die sogar jugendliche Anhänger findet.

 

Ein weinroter Lieferwagen Baujahr 1959 nähert sich an einem verregneten Novembermorgen dem Londoner East End. An Bord: Drei Herren in Maßanzügen, eine Dogge namens Glory und ein Stapel Tweed-Kleidung. Die Mission: Die britische Jugend stilvoll zu kleiden. Als Gustav Temple und seine beiden Mitstreiter in einer Sozialsiedlung ihrem Gefährt entsteigen und Teenagern in Trainingsanzügen "free tweed" anbieten, gilt es einige Kommunikationsschwierigkeiten zu überwinden: Die Angesprochenen verstehen erst "free weed", Gratis-Haschisch.

Als geklärt ist, dass es hier nichts zum Rauchen gibt, sondern Landmode aus kariertem Wollstoff, greifen die Jugendlichen nach den Hüten und Jacken. Schnell sind die Mitbringsel verschwunden; zeitweise leider auch der Autoschlüssel und die Dogge, die ihr Besitzer gegen eine Zigarre vom Entführer zurücktauscht. Die Herren finden dennoch, die Hilfsaktion sei gut gelaufen.

Ein knappes Jahr später sitzt Gustav Temple im "Bramah Tea Room" an der Southwark Street. Trotz warmer Witterung trägt er eine maßgeschneiderte Tweedjacke, einen leger gebundenen Schlips und braune Brogues, jene klassischen Herrenschuhe mit Lochmuster. "Die Vorschrift, dass ein Gentleman in der City niemals braun tragen sollte, ist überholt," sagt Temple und nippt vom Ceylon-Tee.

Freundliche Exzentrik und höfliche Albernheit, kurz: "Chappisten"

Das wirkt zunächst wie eine erstaunlich kapriziöse Bemerkung des Mannes, der uns die "Zehn Gebote für den Chap" geschenkt hat. Das erste Gebot lautet: "Du sollst achten die Heiligkeit der Teestunde und der Cocktailstunde", das sechste: "Du sollst den Inhalt deiner Schnupftabaksdose mit jenen teilen, die mächtigen Nasenhunger verspüren." Geht man den Dekalog durch, wird aber klar, dass jemand, der so wundervoll abseitige Regeln aufstellt, unmöglich Konventionen wie "never brown in town" wird ernst nehmen können.

Gustav Temple, Gentleman, Pfeifenraucher, Dandy-Dadaist, ist Herausgeber des Magazins The Chap. Die Quartalsschrift mit einer Auflage von gut 5000 hat sich seit sieben Jahren zum Zentralorgan jener entwickelt, die wehmütig auf Zeiten zurückblicken, in denen der Herr zur Begrüßung den Hut lüftete und Damen über die Straße geleitete.

Die "Chappisten", meist zwischen Anfang Zwanzig und Ende Vierzig, kleiden sich gern in Mode der Vierziger Jahre; die Herren tragen Schnurrbart und Monokel, die Damen Diadem. Die Chaps, die sich bei Tanz- und Plausch-Vergnügen wie "Rakehell’s Revels" in der Regent Street treffen, haben freundliche Exzentrik und höfliche Albernheit zur Lebensmaxime gemacht.

Das Wort "Chap" ist mit "Bursche" unzureichend übersetzt, die Wortkombination "Old Chap" mit "alter Knabe" schon etwas besser. In "Chap" schwingt etwas aufgeräumt Englisches mit, ein Hauch von Gurkensandwiches und Schelllack-Platten, der Geist von P.G. Wodehouse und Trevor Howard, von Beau Brummel und Oscar Wilde. Solche Urtypen des britischen Gentleman-Dandys sind es auch, die die Chaps in ihren Artikeln und Aktionen und in ihrer Kleidung feiern.

Die Titelseite des Chap zieren oft Fotos von Herren in Pullunder und Krawatte, mit Brillantine im Haar und Pfeife zwischen perlweißen Zähnen. Die Artikel beschäftigen sich mit dringenden Fragen wie der, was der Gentleman zum Popkonzert trägt (Frack und Opern-Cape) und, unter Titeln wie "Die Semiotik des Frühstücks", was man der Lady seines Herzens morgens zu servieren hat (selbstredend Champagner, Kaviar und Schokoladentrüffel).

Lichtgestalten des Chappismus wie Stephen Fry erklären, was beim Pfeiferauchen zu beachten ist. So verfolgen Temple und sein Magazin das Ziel, "die Umgangsformen des Gentleman und seine elegante Kleidung wieder zu beleben".

Das würde alles fürchterlich steif wirken, wäre nicht Selbstironie eine der wichtigsten Zutaten der "Chap"-Bewegung. Temple betrachtet The Chap genauso als Satirezeitschrift wie als Stilfibel. Doch die Kernphilosophie dahinter sei ernst gemeint, sagt er: "Sie lautet: Die moderne Welt ist vulgär. Sie ist monoton und durchkommerzialisiert."

Konservativ ist die Angst anders zu sein

In diesem Moment klingelt Temples Mobiltelefon. Rasch und mit dem Ausdruck aufrichtigen Bedauerns schaltet er es ab. Hielte man sich an den Ratschlag, den Temple für solche Fälle im Büchlein "Das Chap-Manifest" niederlegte, müsste man jetzt im Gegenzug einen Lyrikband aus der Tasche ziehen, einige Zeilen lesen, wieder wegstecken und zerstreut fragen: "Verzeihung, was sagten Sie gerade?"
 

Aber auch Nachsicht zeichnet Gentlemen aus. Denn obwohl Gustav Temple sich den Paraphernalien der Moderne nicht ganz entledigen kann, stellt er immer wieder unter Beweis, wie viel ihm im Prinzip an der "Re-Zivilisierung" der Gesellschaft liegt. Konzeptuell zwischen Monty Python’s Flying Circus und einem idealisierten Herrenzimmerkosmos angesiedelt, bekämpfen die absichtsvoll verschrobenen Chap-Aktionen den "Zeitgeist der Fastfoodketten und Trainingsanzug-Mode".

So eine Aktion war die Tweed-Spende im East End. Eine andere trägt das Motto "Civilise the City". Temple und einige Gesinnungsgenossen flanieren seit 2003 jährlich mit Hut und Spazierstock die Oxford Street hinab, bestellen trockene Martinis und gebratene Nierchen bei McDonald’s, erkundigen sich im Jeansladen nach rahmengenähten Schuhen, und versuchen, bei einer Mobilfunkkette ein Bakelit-Telefon zu erstehen.

"Wir versuchen, einer uniformierten Welt Individualität entgegensetzen", erläutert Temple. Kleine Erfolge sehen so aus: "Ich bekam kürzlich einen Leserbrief von einem 15-Jährigen, er schrieb 'Ich bin der einzige in meiner Schule, der ein Krawattentuch trägt.' Es ist eine Art Rebellion, aber eben eine elegante."

Nicht die Chaps seien konservativ, sondern die Jugendlichen, die alle die gleichen Kapuzenjacken und Sportschuhe tragen. "Sie haben einfach Angst, anders zu sein." Temple will, dass sein einjähriger Sohn nicht mit dieser Angst aufwächst. Er holt ein Foto hervor. Es zeigt den kleinen Theodor auf einem Kissen, eine winzige Pfeife im zahnlosen Mund. "Voll funktionstüchtig", versichert der Vater. "Natürlich nur theoretisch."

Das von vielen als Demonstration reaktionärer Angehöriger der Upper Class missverstandene "Civilise-the-City"-Event 2004 fand unter Polizeibeobachtung statt. Eine Woche zuvor war die Fuchsjagd verboten worden. Deren landadlige Befürworter hatten sich in Londons Innenstadt Rangeleien mit Ordnungshütern geliefert.

Obwohl Temple diese Aufmerksamkeit willkommen war, betont er, dass die "Chaps" und die feudal geprägten Fuchsjagd-Freunde außer der Vorliebe für Tweed wenig gemein haben: Dem wahren Chap geht es mehr um vorbildliche Haltung und distinguiertes Äußeres als um Herkunft oder Fähigkeiten. Der Chappismus ist darin, ebenso wie in seinem überfeinerten Nonkonformismus, am ehesten der Punk-Bewegung der späten siebziger Jahre vergleichbar. Nur mit umgekehrten Vorzeichen in Kleidungsfragen und Umgangsformen. Nicht zufällig pflegt The Chap die Ästhetik eines Underground-Magazins.

Vom Dichter zum Dandy

Gustav Temple ist in der Ära der Punk aufgewachsen, und er fand deren Müllmode unappetitlich. Gern wäre er Dichter geworden. Daher ging in den achtziger Jahren - "dem Jahrzehnt, in dem ich theoretisch hätte studieren können" - nach Paris, um dort Vorbildern wie Rimbaud und Verlaine nachzueifern. Nach einigen Jahren heimgekehrt, fand er für seine journalistischen Ambitionen kein passendes Organ und gründete kurzerhand The Chap.

Die Mehrzahl seiner Mitstreiter kommt, wie Temple, aus der Mittelschicht. "Die meisten heutigen Aristokraten sind ja entweder fürchterlich angepasste Banker-Typen oder gelangweilte Drogenabhängige", urteilt Temple. Da scheint dann doch ein wenig Klassenneid mitzuschwingen. Denn wenn es um Nicht-Aristokraten geht, stört Drogenabhängigkeit Temple nicht so sehr, im Gegenteil.

Den Babyshambles-Sänger und zeitweiligen Kate-Moss-Freund Pete Doherty hält er trotz dessen nicht immer präsentabler Kleidung für einen modernen Dandy: "Er ist dekadent, das gefällt mir. Dass er nicht besonders talentiert ist, scheint mir nicht so wichtig." Besser kann man sie nicht zusammenfassen, die Punk-Attitüde im Tweed-Jackett.

 

Alexander Menden ▪ sz ▪ 09.10.2006