Heute ist Cannabis f�r mich Lethe, der Strom des Vergessens.
Wenn die Zukunft am dunkelsten aussieht, rauche ich und lasse
mich davontreiben. Aber damals war es der Schl�ssel zur Le-
benslust. Es war herrlich, high zu sein. Ein paar Z�ge und ich
war jemand v�llig Neues: Liv Whitelaw, die Gesetzlose, uner-
schrocken und aufsehenerregend. Nat�rlich war ich diejenige,
die ausfindig machte, woher das Gras kam: von drei Typen aus
Wales, Medizinstudenten, die in der Gro�stadt was erleben woll-
ten. An Alkohol und Stoff fehlte es ihnen offensichtlich nicht.

Nur Frauen suchten sie noch. Als sie uns trafen, hatten sie dieses
Problem auch gel�st.

Aber von den Jungs gefiel mir keiner. Zwei waren mir zu
klein. Und der dritte roch ganz widerlich aus dem Mund. Meine
Freundinnen konnten die Kerle haben.

Zwei meiner Freundinnen hatten das Julip's schon verlassen,
hatten sich mit einem �Wir sehen uns in Cambridge, Liv� von
mir verabschiedet, als die Band Pause machte. Ich lehnte mich
auf meinem Stuhl zur�ck und steckte mir eine Zigarette zwi-
schen die Lippen. Richie Brewster gab mir Feuer.

Wie albern und banal er mir jetzt erscheint, dieser Moment,
als ungef�hr f�nfzehn Zentimeter von mir entfernt das Feuer-
zeug aufflammte und sein Gesicht erleuchtete. Aber Richie
hatte alle alten Schwarzwei�filme dieser Welt gesehen und be-
trachtete sich als eine Kreuzung aus Humphrey Bogart und
David Niven. Er sagte: �Darf ich mich zu Ihnen setzen?� Und
Liv Whitelaw, die Gesetzlose, antwortete mit blasierter Miene:
�Tun Sie, was Sie nicht lassen k�nnen.� Soweit ich erkennen
konnte, war Richie ein alter Knacker, weit �ber vierzig, vielleicht
n�her f�nfzig. Seine Haut um Kinn und Augen war schlaff. Er
interessierte mich nicht.

Warum bin ich dann an dem Abend mit ihm gegangen, als die
Band ihre letzte Nummer gespielt hatte und das Julip's zu-
machte? Ich k�nnte Ihnen erz�hlen, da� der letzte Zug nach
Cambridge weg war und ich nicht wu�te, wohin, aber ich h�tte ja
heim nach Kensington fahren k�nnen. Tja, als Richie sein Saxo-
phon einpackte, zwei Zigaretten anz�ndete, mir eine reichte
und mich fragte, ob ich noch Lust auf einen Drink h�tte, glaubte
ich eben, da winke eine Verhei�ung aufregender neuer Erfah-
rungen. Und darum sagte ich: �Gern, warum nicht?� und gab so
meinem Leben eine ganz neue Richtung.

Wir fuhren in einem Taxi nach Bayswater. Richie sagte zum
Fahrer: �Zum Commodore, am Queensway�, legte seine Hand
ganz oben auf meinen Schenkel und dr�ckte zu.

Das ganze Getue hatte f�r mich den Reiz des Verbotenen, und
ich kam mir dabei wahnsinnig erwachsen vor. Am Hotelemp-
fang wechselte das Geld den Besitzer, wir bekamen zwei Fla-
schen ausgeh�ndigt, stiegen zum Zimmer hinauf, sperrten auf.
Richie sah mich die ganze Zeit �ber immer wieder an, und ich
l�chelte mit Verschw�rermiene zur�ck. Ich war Liv Whitelaw,
die Gesetzlose, ein m�nnermordender Vamp, dem die M�nner
aus der Hand fra�en. Ich pr�sentierte mich mit Schlafzimmer-
blick und aufreizend herausgestrecktem Busen. Mein Gott, wie
l�cherlich.

Richie ri� die Plastikh�lle von den Gl�sern, die auf der wacke-
ligen Kommode standen, und kippte schnell hintereinander
drei kleine Wodka. Er schenkte sich einen vierten, gr��eren ein
und schluckte den, ehe er mir einen Gin eingo�. Er nahm die
Flaschen zwischen seine Finger und trug sie zusammen mit
seinem Glas zu dem runden Tisch zwischen den beiden Sesseln.

Richie setzte sich, z�ndete sich eine Zigarette an und begann zu
reden.

Ich erinnere mich genau der Themen: Musik, Kunst, Thea-
ter, Reisen, B�cher, Filme. Voll tiefer Ehrfurcht angesichts so
umfassender Bildung h�rte ich zu. Ab und zu gab ich eine
Antwort. Sp�ter entdeckte ich, da� Schweigen und gebannte
Aufmerksamkeit das einzige waren, was von mir erwartet
wurde, aber in jener Nacht fand ich, es sei echter Wahnsinn,
mit einem Mann zusammenzusein, der sich �einer Frau wirk-
lich �ffnete�.

Ich wu�te ja nicht, da� Reden f�r Richie Brewster das Vor-
spiel ersetzte. Er hatte kein Interesse daran, den weiblichen
K�rper zu liebkosen. Er brachte sich auf Touren, indem er
laberte. Als er sich an diesem Abend in Hitze gequatscht hatte,
stie� er mir seine Zunge in den Mund, zog den Rei�verschlu�
meiner langen Hose auf und holte seinen Schwanz raus. Dann
Imgsierte er mich zum Bett. Er l�chelte mich an, sagte sehr
bedeutungsschwer �O ja� und zog seine Hose aus. Dann lupfte
er meine H�ften und tauchte ein.

Hlinterher verschwand er im Bad. Das Wasser rauschte und
verebbte wieder. Er kam mit einem Handtuch zur�ck, warf es
mir l�chelnd zu und meinte: �Bist du immer so na�?� Ich nahm
es als Kompliment. Er ging zur Kommode und schenkte uns
Iniden wieder zu trinken ein. Er sagte: �Mensch, ich f�hl mich
wie neugeboren�, und kam zum Bett, wo er mir den Hals k��te
und sagte: �Du bist toll. Echt toll. So einen Orgasmus hab ich
seit Jahren nicht mehr gehabt.�

Ich f�hlte mich unglaublich m�chtig, und alles, was ich bis-
her erlebt hatte, erschien mir v�llig unbedeutend. Bis zu dieser
Nacht im Commodore waren meine Liebesabenteuer nichts wei-
ter gewesen als schwitzendes Gegrapsche mit gr�nen Jungs,
die von Liebe keine Ahnung hatten.

Ritichie ber�hrte mein Haar. Es war damals mittelbraun, nicht
wie jetzt, und lang und glatt. Er hielt eine Str�hne zwi-
schen seinen Fingern und murmelte: �Hm, sch�n weich.� Er
hielt mir das Ginglas an den Mund. Er g�hnte. Er rubbelte sich
den Kopf. Er sagte: �Kein Schei�, mir kommt's vor, als w�rd
ich dich seit Jahren kennen.� Und das war der Moment, in dem
ich beschlo�, da� ich ihn liebte.

Ich blieb in London. Mir war pl�tzlich klar, da� ich nie nach
Cambridge gepa�t hatte, zu den Snobs und den Schwulen und
den Trotteln. Warum, zum Teufel, sollte ich als Gesellschafts-
wissenschaftlerin Karriere machen - das war sowieso Mutters
Idee gewesen, sie hatte ja auch s�mtliche Beziehungen spielen
lassen, um mich in Girton unterzubringen -, wenn ich ein Ho-
telzimmer in Bayswater haben konnte und einen richtigen
Mann, der daf�r zahlte und jeden Tag vorbeikam, um auf
einer durchgelegenen Matratze eine Nummer mit mir zu schie-
ben.

Nach einer Woche, als meine Freundinnen sich sagten, da�
es ihrem Ansehen an der Uni nur schaden konnte, wenn sie
mich noch l�nger deckten, schlug man in Girton Alarm. Man
rief meine Eltern an. Meine Eltern riefen die Polizei an. Den
einzigen Hinweis, den sie den Bullen geben konnten, war die
Adresse Julip's in Soho, aber ich war vollj�hrig, und da in letzter
Zeit keine weibliche Leiche meines Alters und meiner Ma�e aus
der Themse gefischt worden war, und da die IRA pl�tzlich
Geschmack daran entwickelt hatte, in Autos, Kaufh�usern und
Untergrundbahnh�fen Bomben zu hinterlassen, st�rzten sich
die Bullen nicht gleich wie Bluthunde auf meine F�hrte. Es
vergingen daher drei Wochen, ehe Mutter, mit Dad am Arm,
im Commodore aufkreuzte.

Ich war sturzbesoffen, als sie kamen. Es war kurz nach acht
Uhr abends, und ich hatte seit vier Uhr getrunken. Als es
klopfte, glaubte ich, es sei der Mann vom Empfang, der die
Miete abholen wollte. Ich dachte, du gottverdammter bl�der
Kerl, la� mich blo� in Ruhe, und war schon richtig in Fahrt, als
ich die T�r aufri�. Und da standen sie. Ich sehe sie noch heute .
vor mir: Mutter in einem dieser adretten, schlichten Kleider,
die sie in allen Variationen tr�gt, seit Jackie Kennedy diese
Mode popul�r gemacht hat; Dad in Anzug und Krawatte, wie
zum Anstandsbesuch ausstaffiert.

Ich bin sicher, auch Mutter kann mich bis zum heutigen Tag
vor sich sehen: in einem von Richies eingelaufenen T-Shirts
und weiter nichts. Ich wei� nicht, was sie im Commodore zu finden
erwartete, als sie an diesem Abend vorbeikam. Aber ich konnte
ihr ansehen, da� sie nicht darauf gefa�t war, da� Liv Whitelaw,
die Gesetzlose, die T�r aufmachen w�rde.

�Olivia!� rief sie. �Mein Gott!� Dad sah mich einmal kurz an,
senkte die Lider, sah mich dann noch einmal an. Er schien in
seinen Kleidern zu schrumpfen.

Ich blieb an der T�r stehen, eine Hand am Knauf, die andere
am Pfosten. In gelangweiltem Ton sagte ich: �Gibt's ein Pro-
blem?� Ich wu�te genau, was kommen w�rde - Schuldzuwei-
sungen, Tr�nen und Manipulationsversuche, ganz zu schwei-
gen nat�rlich von dem Versuch, mich irgendwie aus dem Com-
araodore herauszulotsen -, und ich wu�te, es w�rde uns�glich
langweilig werden.

�Was ist mit dir passiert?� fragte sie.

�Ich hab einen Mann kennengelernt. Wir leben zusammen.
Das ist die ganze Geschichte.�

�Das College hat uns angerufen�, sagte sie. �Deine Lehrer
sind au�er sich. Deine Freunde machen sich die gr��ten Sorgen
um dich.�

�Cambridge ist out.�

�Aber deine Ausbildung, deine Zukunft, dein Leben�, warnte
sie. Sie sprach sehr vorsichtig. �Was denkst du dir denn?�
Ich zupfte an meiner Lippe. �Was ich mir denke? Hmmm ...
Ich denk eigentlich nur daran, da� ich mit Richie Brewster
bumsen m�chte, sobald er wieder da ist.�

Mutter schien einen ganzen Kopf gr��er zu werden. Dad
senkte wieder den Blick zu Boden. Seine Lippen bewegten sich,
Als er etwas murmelte, das ich nicht verstand.

�Was haste gesagt, Alter?� fragte ich und lehnte mich mit dem
R�cken an den T�rpfosten. Aber eine Hand lie� ich auf dem
Knauf. Ich war nicht naiv. Ich wu�te genau, wenn es meine
Mutter schaffte, in das Zimmer hereinzukommen, war mein
Leben mit Richie vorbei.

Doch sie schien einen anderen Weg einschlagen zu wollen,
den der Vernunft und der Hoffnung, Olivia wieder zur Einsicht
zu bringen. Sie sagte: �Wir haben mit den ma�gebenden Leuten
im College gesprochen. Sie sind bereit, es noch einmal mit dir zu
versuchen. Pack also jetzt deine Sachen.�

�Nein.�
�Olivia!�

� Du kapierst es anscheinend nicht. Ich liebe ihn. Er liebt mich.
Wir leben hier zusammen.�

�Das ist kein Leben.� Sie sah nach rechts und nach links, als
wollte sie sich ein Bild davon machen, in welchem Ma� diese
Umgebung zu meiner Ausbildung und meiner Zukunft beitra-
gen k�nnte. Ihr Ton, als sie zu sprechen fortfuhr, war ruhig,
und sie appellierte an meine Vernunft. �Du bist unerfahren. Du
bist verf�hrt worden. Es ist verst�ndlich, da� du glaubst, diesen
Mann zu lieben, da� du glaubst, er liebe dich. Aber dieses - das
hier, -...� Ich sah ihr an, da� sie sich wahnsinnig zusammen-
nahm, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Sie versuchte sich als
Mutter des Jahres. Aber ihr Auftritt in dieser Rolle kam viel zu
sp�t. Und ich merkte, wie ich w�tend wurde.

�Ja?� sagte ich. �Das hier...?�

�Das ist doch nichts weiter als billiger Gin gegen Sex. Das mu�
dir doch klar sein.�

�Mir ist klar�, sagte ich mit zusammengekniffenen Augen, ,
weil mir das Licht vom Korridor in den Augen zu brennen
anfing, �da� das hier viel mehr ist, als du dir �berhaupt vorstel-
len kannst. Aber man darf schlie�lich keine Wunder an Ver-
st�ndnis erwarten, nicht wahr? Du bist ja wohl in Sachen Liebe
und Leidenschaft von Erfahrung ziemlich unbefleckt.�

Mein Vater sagte: �Livie!� und hob den Kopf.

Meine Mutter erwiderte: �Du hast zuviel getrunken.� Sie
dr�ckte die Finger an die Schl�fen und schlo� kurz die Augen.
Ich kannte die Anzeichen. Sie k�mpfte gegen eine Migr�ne. Nur
ein paar Minuten noch, dann w�rde ich die Schlacht gewonnen.
haben. �Wir rufen im College an und sagen, da� du morgen
oder �bermorgen kommst. Jetzt m�ssen wir dich erst einmal
nach Hause bringen.�

�Nein. Wir brauchen uns nur zu verabschieden. Ich gehe
nicht mehr nach Cambridge. Wer darf gnadenhalber den Rasen
betreten? Wer tr�gt welchen Talar? Wer nimmt dieses Semester
deine Hausarbeiten auseinander? Das ist kein Leben. Das hier ist
Leben.�

�Mit einem verheirateten Mann?�

Mein Vater nahm sie am Arm. Das war offensichtlich die
Trumpfkarte, die sie sich bis zuletzt aufgehoben hatten.

�Bei dem du immer warten muBt, bis seine Ehefrau ihn frei-
gibt?� Meine Mutter, die genau wu�te, wie sie diesen Moment zu
nutzen hatte, streckte die Arme nach mir aus und sagte: �Ach,
Olivia. Meine liebste Olivia.� Aber ich sch�ttelte sie ab.

Ich hatte es nicht gewu�t, verstehen Sie, und meiner Mutter
war das v�llig klargewesen. Ich, die dumme Zwanzigj�hrige, die
sich ma�los �bersch�tzte, der m�nnermordende Vamp Olivia
Whitelaw, der der Geliebte aus der Hand fra�, ich hatte es nicht
geahnt. Ich h�tte es merken m�ssen, aber ich hatte es nicht ge-
merkt, weil zwischen uns alles so anders war, so wahnsinnig span-
nend und aufregend. Aber pl�tzlich fiel es mir wie Schuppen von
den Augen, wie das h�ufig so ist, wenn man einen richtigen
Schock erlitten hat, und ich wu�te, da� meine Mutter die Wahr-
heit sagte. Er blieb nicht immer die ganze Nacht. Er behauptete,
er h�tte Verpflichtungen in einer anderen Stadt, und das stimmte
sogar: in Brighton, bei seiner Frau und seinen Kindern.

Mutter sagte: �Du hast es nicht gewu�t, nicht wahr, Herz-
chen?� Und das Mitleid in ihrer Stimme reizte mich so sehr, da�
ich meine Stimme wiederfand.

�Wen interessiert das schon�, sagte ich und f�gte hinzu: Klar
hab ich's gewuBt. Ich bin ja schlie�lich nicht bl�de.�

Aber ich war bl�de. Sonst h�tte ich auf der Stelle meine
Sachen packen und Richie Brewster verlassen m�ssen.

Sie m�chten wissen, warum ich es nicht getan habe, hm? Ganz
rint�ch. Ich sah keine Alternative. Wohin h�tte ich denn gehen
k�nnnen? Zur�ck nach Cambridge, um die Musterstudentin zu
ppielen, w�hrend alle nur darauf warteten, daB ich wieder ins
Fettn�pfchen trat? Heim nach Kensington, wo Mutter sich, trie-
fend vor Edelmut, meiner emotionalen Leiden angenommen
h�tte? Oder auf die Stra�e? Nein. Nichts davon kam in Frage.
Ich w�rde nirgendwohin gehen. Ich hatte mein Leben voll im
Griff, und das w�rde ich unwiderlegbar beweisen.

Ich sagte also: �Er trennt sich von seiner Frau, falls es euch
interessieren sollte�, und knallte die T�r zu. Ich sperrte ab.

Sie klopften noch eine Weile. Wenigstens Mutter. Ich konnte
h�ren, wie Dad mit leiser Stimme, die weit entfernt klang, sagte:
�Miriam, das reicht jetzt.� Ich kramte in der Kommode nach
einer frischen Packung Zigaretten, z�ndete mir eine an, go� mir
noch einen Drink ein und wartete darauf, da� sie es endlich
aufgeben und abhauen w�rden. Und dabei �berlegte ich die
ganze Zeit, was ich sagen und tun w�rde, wenn Richie kam und
ich ihn in die Knie zwang.

Ich hatte hundert verschiedene Szenarien auf Lager, die alle
damit endeten, da� Richie um Gnade flehte. Aber er lie� sich
zwei Wochen lang nicht mehr im Commodore blicken. Er hatte
irgendwie Wind davon bekommen, was losgewesen war. Und
als er endlich aufkreuzte, wu�te ich bereits seit drei Tagen, da�
ich schwanger war.