Der Potter der Postmoderne

Thomas Pynchons neuer Roman stürzt die Kritiker in Verlegenheit

 

Der amerikanische Romancier Thomas Pynchon ist für die literarische Welt, was Harry Potter für Kinder - wenn der Meister der postmodernen Selbstmystifikation ein Buch herausbringt, stehen die Kritiker kopf. Dabei ist es eigentlich ganz egal, was sie schreiben: Die Buchhandelskette Barnes & Noble warb für den neuen Roman schon vor Verkaufsbeginn mit einem wüsten Verriss aus der «New York Times».

Gemeinhin hat es die hiesige Literaturkritik nicht allzu eilig; bei dem grossen Unsichtbaren der amerikanischen Gegenwartsliteratur aber stimmten sämtliche Blätter und Magazine schon einen Tag bevor der 1085 Seiten zählende Wälzer «Against the Day» am Dienstag über den Ladentisch ging, in den Kritiker-Chor mit ein. Wer sich wie Pynchon den Medien verweigert, wird zuverlässig zu ihrem Star gekürt. Und in San Francisco, Berkeley und in New York blieben manche Buchhandlungen bis nach Mitternacht offen, um den hartgesottenen Fans die druckfrische Ware als Bettlektüre ans Herz zu drücken.

Ein Pynchon-Roman, schreibt die «Los Angeles Times», gerate automatisch unter die Zuchtrute jener, die sich notorisch über Exzesse, Disziplinlosigkeit, Überkomplexität und den Schwierigkeitsgrad von Romanen beklagen - jener Kritikerzunft mithin, deren idealer Roman linear, mit einem griffigen Plot und aus einer stimmigen Perspektive geschrieben sei. Davon kann im Fall dieses jüngsten Mammutwerks nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Die Kritiken in den amerikanischen Medien, die ziemlich einstimmig ihre Ratlosigkeit bezeugten, stammten durchaus nicht nur aus der Feder der Liebhaber der Simplizität. Bei manchen hat sich die Ratlosigkeit in einem Wutausbruch artikuliert. Pynchons «Against the Day», schimpfte die für ihre scharfen (und nicht immer gut begründeten) Urteile bekannte «New York Times»-Kritikerin Michiko Kakutani, sei «ein aufgeblasenes Puzzle, prätentiös, ohne provokativ, elliptisch, ohne erhellend, und kompliziert, ohne aufschlussreich und komplex zu sein».

Die Hingabe einer Ehe

Die meisten Kritiker freilich blieben bei eher widersprüchlichen Adjektiven oder paradoxen Umschreibungen. Pynchons Roman fordere eine Hingabe wie eine amerikanische Ehe und eine Ausdauer wie der Bau der ägyptischen Pyramiden, befand der «Philadelphia Inquirer». Nur in einem sind alle einig: Der Versuch, so etwas wie eine Inhaltsangabe zu liefern, ist gründlich zum Scheitern verurteilt. Am besten fährt man vermutlich, wenn man den Autor selber zu Wort kommen lässt. Dieser hatte - ohne Kenntnis seines Verlages - im letzten August eine Kurzbeschreibung auf Amazon.com placiert, die nun in den Klappentext übernommen wurde. Der verspricht einen Roman über «eine Zeit hemmungsloser unternehmerischer Gier, heuchlerischer Religiosität, idiotischer Nutzlosigkeit und schlechter Absichten an den Hebeln der Macht» am Vorabend eines globalen Desasters.

Angesiedelt in der Zeit zwischen der Chicagoer Weltausstellung 1893 und den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, bewegt die Erzählung sich von den Arbeiterkämpfen in Colorado über das New York der Jahrhundertwende nach London, Göttingen und Venedig, um über Wien und den Balkan in das Sibirien zur Zeit der mysteriösen Tunguska-Vorkommnisse vorzustossen; weiter geht es durch das revolutionäre Mexiko nach Paris und in die Stummfilmzeit sowie «an ein oder zwei Orte, die sich genaugenommen auf keiner Karte finden lassen». Die Anfänge des Jazz, die Quantenphysik, der Marxismus und die Marx Brothers sekundieren offenbar die Geburtsstunde jenes zeitgenössischen Amerika, zu dem der Autor - im Sinne der Freudschen Theorie der Verneinung - ausdrücklich keinen Bezug herstellen will.

Ergänzen darf man das Ganze wohl um die bei Pynchon üblichen Ingredienzien, sprich ein hochkomplexes System aus kollektiven Mythen, Science Fiction, historischen Fakten und paranoiden Verschwörungszusammenhängen: Nahezu alle Kritiker waren sich jedenfalls einig, dass wir mindestens drei oder vier Romane in einem geliefert bekommen. So überbieten sich die Besprechungen in der Aufzählung dessen, was zu einer schlüssigen Handlung sich nicht summieren will; der Rezensent der «New York Sun» hat seinen Artikel gleich als eine Art Liste angelegt. Der Kritiker der «Newsweek» machte auf Seite 400 Schluss und beschloss, die Besprechung in Fortsetzungen zu schreiben; nach nicht einmal der Hälfte seiner Lektüre habe er schon genügend Notizen für ein voluminöses Buch zusammen. Der Autor des «Time Magazine» wog Pynchons Trumm gegen seinen Toaster auf und befand den Roman mit über drei Pfund für zu leicht. Zwar habe sein Toaster nicht Pynchons betörende Stimme mit ihrem Faulknerschen Flüsterton, der lyrischen Melancholie eines Scott Fitzgerald und den ekstatischen Schlüssen eines Kerouac, man wisse aber im Unterschied zu diesem Buch, was herauskomme. Bei dem Rezensenten der New Yorker Tageszeitung «Newsday» war es das Hirn, das sich nach einer «erregenden und entnervenden», aber nicht uninspirierten Lektüre «aus dem Schädel bohren» wollte.

Höflicher Gastgeber

Einige haben dennoch so etwas wie einen Plot ausgemacht: den Mord an dem Silberminen-Bergmann Travese Webb, dessen vier Kinder die Handlung im Wesentlichen vorantreiben; eine Tochter ist mit dem Mörder des Vaters liiert. Obskure Sprachen werden gesprochen, bizarre Sexualpraktiken sind an der Tagesordnung. Ballonfahrer, Anarchisten und Unternehmer, Mathematikerinnen und Degenerierte, Detektive und Schizophrene, redende Blitze und Französisch sprechende Hunde treten auf. Pynchon benehme sich wie ein allzu höflicher Gastgeber, der jeden seiner Gäste mit endlosen Hintergrundgeschichten vorzustellen bemüht sei, auch wenn man diesen nie mehr begegnen werde, schreibt die «Los Angeles Times».

Doch Pynchons Sirenengesang wird die Unkenrufe mühelos übertönen; auf die Fangemeinde wirkt alles aus seiner Feder wie eine Droge. Die Süchtigen haben im Internet eine Plattform nach dem Prinzip Wikipedia erstellt, auf der ausführliche Exegese betrieben wird (pynchonwiki.com). Und wenn auch manchem, wie etwa Louis Menand im «New Yorker», der Roman wie eine von Pynchon auf Pynchon verfasste Parodie vorkommt - bis auf wenige Ausnahmen spürt man in all den Kritiken jenen leisen Verdacht, den der Rezensent von «Newsday» offen ausspricht: Es könne sich bei diesem Buch wie bei Joyces «Ulysses» in Wirklichkeit um ein Meisterwerk handeln, dessen wahre Bedeutung erst die Zukunft oder auch eine nicht durch den Rezensionsdruck bestimmte Lektüre enthüllen werde.

 

 

Andrea Köhler ▪ nzz ▪ 23.11.2006