Digitale Boh�me
Sie nennen es Arbeit
Vorab: Zu Weihnachten werden alle B�ros schlie�en. Na sch�n, denkt man, dann kann man ja v�llig beruhigt nach dem Weihnachtsfest in den Winterurlaub fahren. Wollen Sie tats�chlich so weiterleben? Das Problem ist, wenn man nach dem Urlaub zur�ckkommt und nach alter Sitte und Gewohnheit ins B�ro gehen m�chte, wird man feststellen: Das B�ro hat immer noch geschlossen, und das B�ro bleibt geschlossen. Das wird jetzt eng, denkt man. Das wird jetzt ganz, ganz eng werden.
Nun gibt es zwei M�glichkeiten: Entweder man holt einen Hammer, schl�gt die T�r ein und setzt sich an seinen Schreibtisch, einfach weil man nicht mehr anders kann und nicht mehr anders mag. Man ist, man mag es drehen und wenden, wie man will, im Laufe der Jahre eine Art Buchhalter geworden, nicht so einer, wie ihn der gro�e portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa einmal dargestellt hat. (Uns fehlt dessen Unruhe, die entscheidend daf�r ist, einen Fernando-Pessoa-Gedanken, ob prosaisch oder poetisch, zu haben.) Da sitzt man nun am Schreibtisch und kommt nicht weiter, aber es beruhigt irgendwie.
Da sa� auch schon die analoge Boheme
Die andere M�glichkeit vor der verschlossenen T�r ist: Man macht kehrt und geht ins Caf�. Wenn man in Berlin wohnt, geht man sofort ins Caf� Sankt Oberholz am Rosenthaler Platz, Berlin-Mitte. Das ist bekannt daf�r, da� hier Leute auftauchen, die nicht ins B�ro gehen, weil sie dort nicht hingehen wollen, weil das B�ro f�r sie geschlossen ist. Die sitzen hier rum, trinken einen Kaffee und schauen stundenlang in ihren Laptop hinein. Wenn ihnen die Birne rauscht, gehen sie wieder. Geht man zu denen hin und sagt: L�uft das so jeden Tag ab?, sagen die prompt: Wir nennen das Arbeit.
Zwei von diesen jungen Leuten, die nicht mehr brauchen als einen Laptop und einen Internetzugang, haben f�r alle anderen Leute, die in diesem Caf� und in allen anderen Caf�s dieser Welt oder daheim oder sonstwo mit ihrem Laptop und dem Internetzugang sitzen, ein Wort gefunden, ein wahres Zeitschl�sselwort, mit dem von einem Moment auf den anderen alles klar und anders wird: �digitale Boh�me�. Jetzt weht ein anderes L�ftchen durch das Caf�: Paris, neunzehntes Jahrhundert, Berlin, zwanziger Jahre, Alfred D�blin (der auch das Caf� Sankt Oberholz aufsuchte): das war die analoge Boh�me (Leute in Caf�s ohne Festanstellung und ohne Internetzugang). Heute in Berlin, Z�rich und �berall hier und dort: das ist die digitale Boh�me (Leute in Caf�s ohne Festanstellung, aber mit Internetzugang). Es gibt kein Proletariat mehr, es gibt keine Bourgeoisie, daf�r (raus aus dem Mittelstandsbau) gibt es eine kleine neue B�rgerlichkeit und eine kleine neue Boh�me.
Sag , wie h�ltst du's mit dem B�ro?
Das Buch, das die beiden jungen Leute von der digitalen Boh�me geschrieben haben (sehr flott geschrieben haben, wahrscheinlich erledigen sie ihre Projekte ebenso flott, wahrscheinlich gehen sie auch flott durch die Welt), ist ein Manifest, in dem sie erkl�ren, was mit der Welt, die ihre Welt ist, und was mit ihnen selbst los ist. Den beiden geht es offenbar gut, die S�tze sind rund. Sie machen unter allen guten Menschen in der Welt der Arbeit vor allem und zuerst einen Unterschied: Sag, gehst du ins Angestelltenland, oder gehst du nicht ins Angestelltenland? Das ist die stolze Gretchen-Frage, die beiden nennen es, als k�men sie durch die Pr�rie auf einem Mustang dahergeprescht, die Wie-willst-du-leben-Frage.
Vor der Lekt�re dieses Buches konnte es v�llig normal gewesen sein, ins B�ro zu gehen. Nach der Lekt�re dieses Buches ist das nicht mehr v�llig normal, sondern mehr kra� (hoffen die Autoren). Drau�en bewegt sich die Welt, drinnen bewegt man sich auf der Karriereleiter. Drau�en steht man auf seinen eigenen schnellen Beinen, drinnen sitzt man auf seinem platten Hintern. Drau�en erwarten einen tausend Netzwerke, drinnen erwarten einen tiefe Depressionen. Drau�en arbeiten die Leute so, wie sie leben wollen, drinnen leben die Leute so, wie sie arbeiten m�ssen.
Den Kapitalismus haut es nicht um
Die digitale Boh�me lebt von der Hand in den Mund (sie kennt die Armut, aber dagegen kann man etwas machen, B�cher schreiben und in Verlagen mit festen Mitarbeitern herausbringen), und sie lebt von Projekten, wie die Angestellten vom Gehaltszettel und von den Aufstiegschancen zehren. Sie schmust mit den neuen WWW-Technologien und wohnt in allen Ecken der neuen WWW-M�rkte wie mit Lebenspartnern auf engstem Raum zusammen, sie pfeift (in jungen Jahren) auf die Rente (die ist, bis sie alt sind, sagen sie, nichts mehr wert), sie pfeift aber nicht auf den Pool von Kontakten (nur noch Freunde werden einem helfen, wenn man alt und klapprig ist). Sie wirft sich in die Brust und versteht sich als Ausweg aus der Fixierung auf den Personalchef, den sie nicht pers�nlich kennenlernen m�chte.
Die digitalen Bohemiens h�ngen nicht rum, sondern entwickeln Konzepte, Blogs, Labels, Marken, Ideen (die beiden Autoren sind gro�z�gig und halten sich nicht allzu lange bei Inhalten auf). Sie arbeiten nicht an einer Gegenkultur, weil man mit der Kultur den Kapitalismus nicht umhaut (vor allem wenn man nebenbei f�r Werbeagenturen arbeiten mu�, damit Geld in die Kasse kommt). Sie bewegen sich mit ihren Angeboten und Nachfragen in dem riesigen kleinteiligen Mark des digitalen Netzes (gleich H�ndlern und Handwerkern auf einem Basar in Istanbul). Sie finden B�rgergeld sinnvoll, Revolution �bertrieben. Sie haben das starke Gef�hl, einen Zipfel der Zukunft in der (oft leeren) Hand zu halten und neue Formen der Arbeit zu antizipieren, von denen der amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann schw�rmt. Geld spielt nicht die erste Rolle in ihrem Leben, sondern Autonomie. Wenn es ein Motto f�r sie gibt, dann halten sie es mit dem Schriftsteller Rainald Goetz und sagen: Don't cry - work. Bessere Mitarbeiter findet unsere Gesellschaft nicht wieder.
Ein prosaischer �Steppenwolf�
F�r sie gibt es keinen Feierabend, sie trennen nicht streng zwischen privat und beruflich. Sie m�chten aufs Ganze gehen. (Auch Nomaden in der W�ste gehen, wenn sie losgehen, aufs Ganze.) Ohne das World Wide Web und die technologischen Errungenschaften der letzten Jahre g�be es sie nicht. Und es wird ihnen, wenn die Technik der Datenstr�me sich weiter so rasant entwickelt, immer besser gehen. Sie sitzen auf dem richtigen Zweig, wenn sie auch nicht Million�re werden. W�hrend man das Buch der beiden digitalen Bohemiens liest, scheint die Sonne gelb, und der Himmel ist frisch blau, und man wird v�llig neugierig, man m�chte sofort ins Caf� Sankt Oberholz gehen und Konzepte, Labels, Programme, Ideen entwickeln. Am besten man verschenkt das Buch zu Weihnachten an die jungen Leute rund um einen herum, die noch nicht wissen, was sie sp�ter werden wollen, aber mitbekommen haben, da� alle B�rost�hle schon besetzt sind und es sehr langweilig sein kann, sich davor in einer Warteschlange anzustellen.
Wann hat ein Buch der Jugend so viel Hoffnung auf gutes Gelingen gemacht? Im Grunde ist das ein Hesse-Buch f�rs digitale Zeitalter. Ein prosaischer �Steppenwolf�. Eine Anleitung zum selbst�ndigen Gl�cklichwerden. Eine Aufforderung zum Ausstieg aus dem alten schleppenden Alltag, der um 9 Uhr beginnt und um 18 Uhr endet. Man mu� sich nur technisch in Schwung bringen und eine Art Hippieleben f�hren mit ganz viel High-Tech - und wissen, was da drau�en im WWW, im zweiten Leben, passiert, das dem ersten Leben h�ufig sagt, wo es langgehen soll.
Kein Fall f�r Habermas
Man darf von der digitalen Boh�me nicht zu viel erwarten. Auch die alte, die analoge Boh�me hatte ihre Macken und Grenzen. Aber sie hat Leute angezogen, die eine Vorstellung vom Leben hatten und eine Vorstellung davon, was sie dort machen wollten beziehungsweise was sie dort auf keinen Fall machen wollten. Ein Bohemien, ob analog oder digital, steht morgens auf und sagt: Wieder ein Tag, an dem ich versuchen werde, so zu leben, wie ich leben m�chte. Eines ist klar: Aus diesem Pool der vernetzten Kreativen und Freiberufler wird kein neuer J�rgen Habermas kommen, auch wenn sie sich Gedanken �ber die Strukturen der neuen �ffentlichkeit machen, auch wenn sie in den R�hren der Kommunikation stecken.
F�r alle, die schon jetzt Stunden vor dem Computer verbringen und dabei das Gef�hl haben, da� sie an etwas teilhaben, was da und doch nicht ganz da ist, f�r all diese Leute ist dieses Buch genau das richtige (siehe �www.wirnennenesarbeit.de�). Wer lieber den ganzen Tag Fontane liest (auch sehr sch�n), wird sich wahrscheinlich etwas wundern �ber das, was er hier �ber die erste und zweite (die WWW-)Welt der digitalen Bohemiens erf�hrt.
Besser als Festanstellung
Werden aus ihnen gute V�ter und M�tter? Die beiden Autoren halten nicht viel von der b�rgerlichen Kleinfamilie. Ihre liebste Kategorie f�r das kleine soziale Zusammensein ist �der Schwarm�. Das klingt nach Frank Sch�tzing, meint aber eine Art freier Kommune (serielle Monogamie und Patchworkstrukturen, sagten die beiden in einem Interview) mit ernstgenommenen elterlichen Verpflichtungen. Sie fordern vom Staat Kindereinrichtungen, die rund um die Uhr aufhaben. (Die Kinder werden sich bedanken, wenn sie abends um neun Uhr in solche Einrichtungen abgeschoben werden, damit Papa und Mama ihren Projekten hinterherhechten k�nnen.)
Ohne die Leute im B�ro, ohne die Leute mit den festen Arbeitszeiten w�rden die Bohemiens von dem Zweig plumpsen, den die beiden Autoren gr�n anmalen. Ohne die Leute im B�ro, ohne die Leute mit den festen Arbeitszeiten, das wissen die beiden Autoren, st�nden die Chancen f�r ein aufregendes Leben ohne bezahlten Winterurlaub und 13. Monatsgehalt schlecht.
Aber: Ein Bohemien w�re kein Bohemien, wenn er sich deswegen ein schlechtes Gewissen machen w�rde. In ihm summt der Refrain (und immer mehr summen mit): Etwas Besseres als die Festanstellung finden wir allemal.
Von Eberhard Rathgeb ▪ faz ▪ 08.12.2006
Holm Friebe, geboren 1972, Mitbegr�nder und Gesch�ftsf�hrer der Zentralen Intelligenz Agentur (ZIA) in Berlin. Er publiziert in verschiedenen Zeitungen. Zusammen mit Kathrin Passig, ebenfalls in der ZIA t�tig und Preistr�gerin des Klagenfurter Literaturwettbewerbs 2006, schreibt er eine Kolumne in der �Berliner Zeitung�.
Sascha Lobo, geboren 1975, ist Mitherausgeber und verantwortlicher Redakteur des mit dem Adolf-Grimme-Preis pr�mierten Weblogs Riesenmaschine. Er arbeitet als freier Werbetexter und machte unter anderem eine Kampagne f�r die MTV-Serie �Popetown�. W�hrend der New-Economy-Phase hatte er eine Werbeagentur.