Jung, weiblich und betrunken

Nach Büroschluss beginnen in Grossbritannien die Trinkgelage. Häufig sind es junge Frauen, die durch Alkoholexzesse auffallen. Die feuchtfröhlichen Ladies-Nights haben üble Folgen.

 

Der Platz ist mit Menschen überfüllt. Sie quellen aus den Kinos und Bars - in feuchtfröhlicher Stimmung. Frauen im kleinen Schwarzen schreien sich die Kehle aus dem Leib, weil der Liebste oder was sich dafür hält, irgendwo in der Menge steckengeblieben ist. Junge Männer sehen sich unverhofft auf Beschwichtigungstour, wo sie sich doch eigentlich auf Balzgang wähnten. Girls mit rosa Boas um den Hals und glitzernden Teufelshörnern auf dem Kopf torkeln über den Platz und pusten in eine Pfeife, als müssten sie Manchester United zur Ordnung rufen. Am Rande unterhält sich der Ambulanzfahrer mit der Polizistin von Auto zu Auto. Noch gibt es für sie auf dem Leicester Square nichts zu tun. Der Abend ist jung. In den frühen Morgenstunden werden sie zusehen, dass die Menschen nach Hause kommen. »Es gibt immer einige, die so betrunken sind, dass sie ins Spital gebracht werden müssen«, sagt der Ambulanzfahrer. »Häufig Frauen.«

Es ist Wochenende in London. Die britischen Frauen ziehen sich den kürzesten Rock an. Kälte hat noch nie ihre Kleiderwahl beeinflusst. Sie ziehen durch die Bars. »Wir haben Fun«, sagt eine der Rosaroten. Und was wird gefeiert? »Freitag.« Heute ist die Nacht der Nächte. Sie beginnt nach Büroschluss: Booze 'n' Boys. Oder auch nicht. Wer weiss am nächsten Morgen noch, ob und was passiert ist?

Ob eine Frau, die betrunken mit entblösstem Oberkörper aus dem Pub torkelt, noch über ihren Körper verfügen kann, ist eine der Fragen, die derzeit in Grossbritannien Rechtsgelehrte und Politiker bewegt. Laut Gesetz gilt jeglicher Sex ohne ausdrückliche Zustimmung der Frau als Vergewaltigung. Bis anhin galten die Frauen als zustimmungsfähig und somit mündig, solange sie bei Bewusstsein sind. Das sollte in einem Staat, in dem Frauen als gleichberechtigte Bürgerinnen gelten, eigentlich hinreichen. Nicht aber in Grossbritannien. Hier überlegt die Regierung, wie Männer als Vergewaltiger zur Strecke gebracht werden können, wenn die Frau so betrunken war, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat.

Weltweit führend

Grossbritannien hat ein Vergewaltigungsproblem. Und es hat ein Alkoholproblem. Die beiden sind eng verbunden. Letztes Jahr registrierte die Polizei in England und Wales 14 449 Vergewaltigungsfälle - die Dunkelziffer dürfte ein Vielfaches betragen. Weniger als 6 Prozent der Anzeigen führen zu Verurteilung, dies nicht zuletzt, weil die Opfer sich nicht mehr erinnern können.

Während Jahren haben Polizei und Lokalbehörden vor Männern gewarnt, die Frauen Rohypnol ins Getränk mischen, um sie gefügig zu machen. Nun haben Michael Scott-Ham und Fiona Burton vom britischen forensischen Dienst in London Blut- und Urinproben von über tausend Opfern untersucht. In nur 2 Prozent haben sie Spuren von Rohypnol gefunden. Indes hatten 32 Prozent der Opfer genug Alkohol intus, um bewusstlos zu werden oder Gedächtnisverlust zu erleiden. Weitere 24 Prozent waren ziemlich betrunken.

»Trinken ist pures hedonistisches Vergnügen«, schreibt die 25-jährige Laura Topham in der Londoner Abendzeitung »Evening Standard«. »Ohne Alkohol hätte ich nie den Plattenspieler des DJ übernommen (bevor ich aus dem Klub geschmissen wurde). Ich hätte auch nicht meine liebsten Stilettos beim Kosakentanz zerbrochen und meine Bankkarte in zahlreichen Automaten steckenlassen.« Laura fing als 15-Jährige mit »binge drinking« (Saufgelagen) an, seither war sie praktisch jedes Wochenende betrunken.

Sie liegt damit im Trend. Britische (weisse) Frauen schauen gern ins Glas, und sie schauen tief. Junge Frauen in England und Irland seien die stärksten Binge-Trinkerinnen der Welt, sagt eine neue Studie. Die Frauen saufen sogar die Männer unter den Tisch - und sind darin europaweit einzigartig.

Binge-Drinking ist bei den Briten ein Volkssport: Jeder trinkt so schnell, so viel wie er - oder eben sie - kann. Männer tun das seit je: Man trifft sich im Pub, trinkt, schwatzt, trinkt mehr - und stolpert dann irgendwann zur Angetrauten ins Bett. Oder in irgendein Bett. Nun haben Frauen aufgeholt. Sie beweisen nicht nur am Arbeitsplatz, dass sie es mit den Männern aufnehmen können, sondern auch in der Bar. Und so ziehen sie am Wochenende los mit dem erklärten Ziel, sich zu betrinken.

Verklemmt und schamlos

Frauen wollen beweisen, dass sie ganze Kerle sind, lautet gemeinhin die Erklärung für den Exzess. »Stress am Arbeitsplatz« sei dafür verantwortlich, glaubt Emilie Rapley vom Institute of Alcohol Studies, sowie die Alkoholindustrie mit ihren Alcopops: »Hier herrscht eine andere Kultur als in Mitteleuropa: Sich stockbetrunken zu übergeben, ist auf der Insel kein Grund zu Verlegenheit.«

Laura Topham erklärt es anders: »Alkohol macht uns glücklich und ungehemmt und die Abende unvorhersehbar und spontan.« Noch deutlicher sagt es Shane Watson, die »Drink«- Kolumnistin vom »New Statesman«: »Wir sind ein leidenschaftlicher, aber verklemmter Haufen, und Alkohol hilft uns, unsere Gefühle auszudrücken.« Eine Party in einem East-End-Pub bestätigt die These: Die Barfrau hat Hexenhüte verteilt. Die Band fängt um neun zu rocken an. Die Stimmung ist öde. Alle sitzen brav in ihren Hüten beim Bier und wippen höchstens ein bisschen mit dem Fuss - wie die Queen beim Defilee. Doch nach zwei Stunden sind sie plötzlich auf den Beinen und tanzen wild, was Herz und Füsse hergeben. Die Frauen wiegen lasziv die Hüften, Männer schmiegen sich an. Weitere vierzig Minuten - und einige Drinks - später macht sich eine an die Unterhose des Wirts und präsentiert der Party dessen bestes Stück, dann geht's an den Jeans-Verschluss eines anderen Mannes . . . Proletarisches Vergnügen? Vielleicht, doch nur in Nuancen. Die schicken Westlondoner Stadtteile verzeichnen nämlich deutlich mehr Binge-Trinker als die armen.

Das Verhältnis der Engländer zur Sexualität ist kompliziert. Auf das Wort »Sex« gibt es zwei Reaktionen: betretenes Schweigen oder Schulmädchen- Gekicher. Eine Auskunft von offiziellen Behörden zu Sex und Alkohol ist denn auch schwer zu erhalten - die Rede kommt sofort auf Leberschäden, Safe Sex und Vergewaltigung. Die Debatte aber über die Gründe, warum Frauen sich jedes Wochenende in diese Gefahren stürzen, muss noch geführt werden. Sie wird das Verhalten der ganzen Gesellschaft einschliessen müssen.

»Alkohol macht uns glücklich und ungehemmt und die Abende unvorhersehbar und spontan. «

 

14. Januar 2007, NZZ am Sonntag
Lilo Weber