Alte, wollt ihr ewig leben?

Recherche im Jahr 2030: Bettina Zimmermann als Journalistin Lena Bach in "Aufstand der Alten"

 

Hinschauen und verzeihen, dass die Darsteller, dann, wenn’s spannend wird, einem zuzuraunen scheinen: „Übrigens bin ich nur ein Drehbuch“. Trotzdem weiterschauen. Vom Geburtsjahrgang 1950 an seine Lebenszeit mit der Zukunftszeit des Film in Beziehung setzen: 2017, 2020, 2030. Dann das Vorbestimmte daran erkennen: Alterung der Gesellschaft. Plus Renten- und Krankenkassen- und Pflegeversicherungszustand. Plus Staatsverschuldung. Minus Produktivitätssteigerung. Multipliziert mit eigenem Geburtsdatum. Das ergibt die Summe unseres Schicksals. Berechenbar. Wie weltweit fast alle Statistiker sagen – ohne jede große Fehlertoleranz. Das erkennen und in den nächsten dreißig Jahren auf die kartesianische Frage sich sagen: Ich bin nur ein Drehbuch. Eines, dessen Autoren wir nicht sind. Autonomie zu verlieren, abhängig zu werden – unter allen Ängsten ist diese Angst der alternden Gesellschaft die verbreitetste.

Im Jahre 1976, als die Männer noch Latzhosen trugen und die Frauen sich gerne „Momo“ nannten, wurde in den einschlägigen Milieus ein Aussteigerfilm sehr erfolgreich, der den Titel trug: „Jonas, der im Jahre 2000 fünfundzwanzig Jahre alt sein wird“. Das ZDF sendet an diesem Dienstag gewissermaßen die Fortsetzung. „Torben, der im Jahre 2030 siebzig Jahre alt sein wird“, könnte er heißen oder einfach nur „Harald, der im Jahre 2030 alt sein wird“. Man sollte hinschauen und das ZDF dafür loben, dass es sich eine ganze Woche lang dem Thema stellt, dass für die heute unter Fünfzigjährigen zum Lebensthema schlechthin wird.

Der Plot ist nicht gut gespielt, denn er ist nur gespielt. Was hätte Wolfgang Menge aus dem Thema gemacht! Die Schauspieler sind Schauspieler, ihre Sätze Drehbuchsätze. Dadurch wirkt „2030 – Aufstand der Alten“ leider über weite Strecken wie ein Science-Fiction-Guido-Knopp aus der Zukunft. Das freilich gibt umgekehrt den authentischen Einspielungen – von Norbert Blüm bis Angela Merkel – eine unerhörte Dramatik. Die Geschichte, deren Auflösung hier nicht verraten werden soll, ist keineswegs absurd: die demographische Situation im Jahre 2030 zwingt die Staaten dazu, sich der Alten kostensparend zu entledigen.

Eine Reporterin, gemimt von Bettina Zimmermann, kommt einem politischen Komplott auf die Spur, dessen Aufdeckung – ähnlich wie bei dem berühmten Thriller „Jahr 2022 . . . die überleben wollen“ („Soylent Green“) – hinter dem Staat ein mörderisches System enttarnt. Es wird im wirklichen Jahr 2030 vielleicht nicht so kriminell geschehen wie im Film. Wer bezweifelt, dass die aktuellen Debatten um Euthanasie und Sterbehilfe bereits im Zeichen der alternden Gesellschaft stehen, wird den Film für unrealistisch halten. Er wird aber damit seine eigene Wachsamkeit betäuben. Denn die Alterung unseres Landes bedeutet nicht geringeres als einen fundamentalen Wandel unserer Gesellschaft: in den Jahren 2009, 2015 und von 2020 an in demographischen Sprüngen, die unübersehbar sein werden.

Der Film mag, wie James Vaupel sagt (siehe auch: Demographie-Experte Vaupel über „Aufstand der Alten“), als naturalistische Variante unserer Zukunft unrealistisch sein, als Sozialutopie ist er es nicht. Wir alle werden in einer Gesellschaft leben, in der erstmals mehr Ältere als Junge leben. Wir alle haben die großen Krisen der Vergangenheit – von den Kriegen bis zur Inflation – immer nur aus der Perspektive der Jüngeren gelesen. Wir, das friedens- und wohlstandsverwöhnteste Deutschland aller Zeiten, werden die Krise als Alte erleben. Von einem Tag X an, so Mark Steyn in seinem aktuellen Bestseller, wird sich die Bevölkerung der am meisten betroffenen Staaten ungefähr alle fünfunddreißig Jahre halbieren. Wir werden weniger sein. Das ist, wie der Demographiekritiker Albrecht Müller im Streitgespräch in der F.A.Z. einst feststellte, zunächst wirklich nicht schlimm (siehe auch: Ist Deutschland noch zu retten? Ein Streitgespräch von Herwig Birg und Albrecht Müller). Schlimm ist, dass diejenigen, die da sind, in der Mehrzahl älter als fünfzig Jahre und in der absoluten Minderheit jünger als fünfundzwanzig Jahre sein werden.

Dem ZDF gebührt das Verdienst, eine durchaus plausible Zukunftsvariante durch einen Thriller illustriert, vor allem aber: durch eine Themenwoche ins Bewusstsein geholt zu haben. Niemand soll auf den Entwarner hören, der älter als dreißig und jünger als fünfzig ist. Was wir erleben, ist ein eher evolutionärer denn revolutionärer Prozess – und er belohnt mit dem Angebot zur Anpassung. Aber Anpassung heißt: die eigene Lebenszeit neu zu denken angesichts einer deutlich wachsenden Lebenserwartung und einer signifikanten Ausdehnung der Phase des „gesunden Alters“.

Die Evolution der Gesellschaft verlangt eine Revolution der Zeit. Wir konnten uns zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts an die Beschleunigung im Raum gewöhnen, nun müssen wir, was ungleich schwieriger ist, den Zuwachs an Zeit leben lernen. Die Lebensoptionen eines heute sechzigjährigen Menschen entsprechen denen von sehr viel jüngeren Menschen zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts – einfach deshalb, weil wir länger und länger gesund leben. Solange dieser Zuwachs an Optionen nur als „Langlebigkeitsrisiko“ gehandelt wird, ist jeder, der heute altert, in den Augen der Gesellschaft eine tickende Zeitbombe.

Ärgerlich ist, daß „2030“ die jungen Leute der Zukunft so zeigt wie die jungen Leute von heute. Sie aber werden anders sein. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird eine der großen Standardfragen an Unternehmen sein, die entweder gewinnen oder untergehen. Denn schon im nächsten Jahrzehnt werden junge Frauen im Arbeitsleben so dringend gebraucht, dass die Debatte um Rollenbilder im Berufsleben ganz anders geführt werden muss: Nicht mehr die Alten werden privilegiert, sondern die Kohorten zwischen dem fünfundzwanzigsten und vierzigsten Lebensjahr.

Eine alternde Gesellschaft ist keine Gesellschaft, in der die Alten aufgrund der Mehrheitsverhältnisse die Macht haben. Die Jungen, vor allem die jungen Frauen, würden (wie in den neuen Bundesländern geschehen) in einem solchen Fall einfach abwandern – weshalb ihre gesellschaftliche Macht in Zukunft größer sein wird als heute. Soziales Jahr mit achtzehn? Wir werden das freiwillige soziale Jahr mit fünfundsechzig oder siebzig erleben! Wo die Jungen die kostbare Minderheit und die Ältern die Regel werden, ändern sich eben die Spielregeln.

Was werden die Jungen tun? Und wann? Nach allem, was wir heute wissen, werden sie, wenn sie ein normales Durchschnittsleben anstreben, vierzig Jahre ihres Lebens sich um Abhängige kümmern müssen. Sie müssen vielerlei leisten: Unterstützung für die eigenen Eltern und Großeltern (die aufgrund der steigenden Lebenserwartung immer länger leben); steuerliche Abgaben für die alternden Kohorten insgesamt; und dann womöglich noch die Entscheidung für eigene Kinder treffen.

Leider ist davon in „2030“ nicht die Rede. Aber da der demographische Wandel das Thema unserer Zeit ist, gibt es genügend Möglichkeiten, die Welt der Zukunft aus der Sicht der Jungen zu schildern. „2030 – Aufstand der Alten“ erzeugt Emotionen; eine spezifische Empörung über das Versagen der Politik ist dabei besonders buchenswert: Erstmals versteht man, was es heißt, wenn die Politik das Kostbarste verspielt, was wir haben, nämlich Zeit. Man versteht, was es heißt, wenn Zeit verrinnt. Der berühmte Gorbatschow-Satz, der das Ende eines Landes beschrieb, dem die Jugend wegblieb, muss nicht nur für die eine ehemalige Hälfte Deutschlands gelten. Die Wut über verpasste Chancen ist gewaltig; sie wird auch den Einzelnen, der vergaß, sich vorzubreiten, noch ereilen. Aber noch größer ist die Enttäuschung über eine Politik, die dadurch Zeit schindet, dass sie permanent sagt, daß uns keine Zeit bleibt. Eine Politik, wie ein schlechter Film. Nur, daß dieser Film droht unser Leben zu werden.

 

Frank Schirrmacher ▪ faz ▪ 16.01.2007