Astrid Lindgren hat einen Realismus der Kindheit geschaffen, in dem sich Kinder auch heute wiedererkennen. In den Bullerbü-Geschichten steht die besondere Wahrnehmung von Kindern im Zentrum, in den Büchern über Pippi und Karlsson vom Dach dagegen ihre Träume.

 

Als Astrid Lindgren begann, Kinderbücher zu schreiben, war sie fast vierzig Jahre alt. Für ihr anonym eingereichtes Manuskript «Britt-Mari erleichtert ihr Herz» erhielt sie in einem Kinderbuch-Wettbewerb auf Anhieb den zweiten Preis. «Es ist eine gewöhnliche Hausfrau», soll der Verleger Hans Rabén geseufzt haben, denn er hatte auf einen illustren Namen gehofft, mit dem sein neu gegründeter Verlag hätte werben können. Er ahnte nicht, dass das nächste Buch dieser Hausfrau seinen Verlag retten würde. Mit «Pippi Langstrumpf» wurde Astrid Lindgren über Nacht berühmt. Nicht dass es ihr etwas bedeutet hätte. «Ich bin ein ganz, ganz klein wenig ziemlich. Aber darüber mag ich nicht schreiben», notierte sie Ende 1946 in ihrem Tagebuch.

Neues, das neu bleibt

Mit «Pippi Langstrumpf» und den Büchern, die in kurzer Zeit folgten, hat Astrid Lindgren eine neue Literatur für Kinder geschaffen, die, nach Ezra Pounds Diktum, neu bleibt. Ein klassisches Werk sei klassisch, so Pound, «kraft einer gewissen ewigen und nicht kleinzukriegenden Frische». Pippi Langstrumpf, Karlsson vom Dach, Michel aus Lönneberga, die Bullerbü-Kinder, Madita, der Meisterdetektiv Kalle Blomquist, Ronja Räubertochter – Lindgrens skandinavische Kinderwelten und -figuren sind auch fünfzig Jahre später lebendig, und das in der ganzen Welt: Ihre Bücher sind in doppelt so viele Sprachen übersetzt wie die Werke von Selma Lagerlöf oder August Strindberg.

Astrid Lindgren gehörte zu den seltenen Erwachsenen, die den Kontakt zu ihrem Kindsein nie verloren haben. «Sie war keine dieser Mütter, die still auf einer Parkbank sitzen und ihren spielenden Kindern zuschauen», sagte ihr Sohn Lasse rückblickend. «Sie wollte selbst spielen, und ich habe den Verdacht, dass es ihr mindestens so viel Spass machte wie mir!» Das Vergnügen, auf Bäume zu klettern, liess sie sich auch als alte Frau nicht nehmen.

Das Ende der Kindheit war ein schmerzhafter, unerwarteter Einschnitt, an den sich Astrid Lindgren genau erinnerte. Sie war zwölf oder dreizehn Jahre alt, und wie jeden Sommer kam die Enkelin des Pfarrers nach Näs in die Ferien, doch «als wir wie immer anfangen wollten zu spielen, stellten wir plötzlich fest, dass wir nicht mehr spielen konnten. Es ging einfach nicht. Wir kamen uns albern vor und waren gleichzeitig traurig, denn was sollten wir jetzt tun, nachdem wir nicht mehr spielen konnten?» Doch beim Schreiben konnte Astrid Lindgren Jahrzehnte später offenbar mühelos wieder in das Kinderleben eintauchen, in die Spiele, die Ängste, die Träume und auch in jenen Witz und jene Traurigkeit, die man so nur als Kind empfindet. Doch als Kind kann man diese Realität nicht darstellen. Man muss sie verlassen, um sie in Form von Geschichten neu erschaffen zu können.

magischer Realismus der Kindheit

In Bullerbü passiert nichts, und doch ist immer etwas los. Kinder unterscheiden nicht zwischen grossen und kleinen Begebenheiten. Sie leben ganz in dem Spiel, das jetzt geschieht, und sie beobachten sich dabei nicht selbst. Astrid Lindgren machte sich diese besondere Wahrnehmung von Kindern in ihren Texten zu eigen. In der vorurteilsfreien Aufmerksamkeit, mit der die Natur und die Spiele in Bullerbü gesehen werden, erkennen sich auch heutige Kinder wieder. Da macht es nichts, dass es in Bullerbü weder Lego noch Sesamstrasse gibt. Gerade in der geduldigen Schlichtheit gewinnt dieser Realismus der Kindheit eine Magie, die nicht nur Kinder in ihren Bann zieht. Die «halbtoten Erwachsenen» (so die Lindgren-Biografin Margareta Strömstedt) haben Gelegenheit, sich beim Vorlesen in die Kinderwelt versetzen zu lassen, die ihnen auf so rätselhafte Weise fremd geworden ist.

Auf dem Bauernhof in Näs hätten sie und ihre drei Geschwister alles bekommen, was Kinder brauchen, nämlich «Geborgenheit und Freiheit», so sagte Astrid Lindgren später. In den Geschichten von Bullerbü erzählt sie von ihrer eigenen Kindheit, und sie mag dabei die Welt, in der die Kinder leben, idealisieren – nicht jedoch die Kinderseele. «, sagte Mama zu Lotta. , sagte Lotta. Da musste Lotta ganz allein im Spielhäuschen sitzen, damit sie wieder artig würde.» Hier wird keine Moral nachgereicht, sondern ganz elementar erzählt, was geschehen ist. Astrid Lindgrens Erzählen verfolgt keine Absicht ausserhalb des Texts. Eine literarische Schwäche der späteren Bücher (wie «Mio, mein Mio» oder «Brüder Löwenherz») liegt denn auch in ihrer Botschaft: dem Sieg des Guten über das Böse, dem Annehmen des Todes, dem Trost in der Einsamkeit.

Mit «Pippi Langstrumpf» hatte Astrid Lindgren nur ein Ziel: ihre zehnjährige Tochter Karin zu unterhalten. Diese lag mit Lungenentzündung im Bett und hatte den Namen erfunden, zu dem dann nur die verrücktesten Geschichten passen wollten. Astrid Lindgren konnte nicht wissen, dass sie mit Pippi Langstrumpf eine Leuchtfigur für die Emanzipation von Kindern schaffen würde.

Lügengeschichten

Dies konnte gelingen, gerade weil es nicht beabsichtigt war. Pippi Langstrumpf ist unsterblich – ganz im Gegensatz zu jenen künstlichen Heldinnen, die in der Verlagswerbung gern als «starke Mädchenfiguren» angepriesen werden und die doch nur die pädagogischen Wunschvorstellungen der Erwachsenen erfüllen.

In Pippis Lust am Lügen erkennen wir heute gern einen antiautoritären Gestus, doch Astrid Lindgren selbst vermutete, dass sie unbewusst durch die Lektüre von Knut Hamsuns «Hunger» dazu angeregt worden sei. Wenn Pippi lügt, wird sie zu einer Erzählerin, und ihren Erfindungsreichtum vermag sie fast nicht zu bändigen. Sie erzählt Geschichten von Fridolf, dem Matrosen, der einen Tisch verspeiste und fand, die Tischplatte sei das beste Butterbrot, das er je gegessen habe, oder von einem Knaben in Brasilien, der nicht gross werden wollte, aber den Spruch falsch aufsagte, mit dem man die Krummelus-Pillen schlucken muss.

Keine Tabus

Nun wurde er gross, aber wie! Er wuchs und wuchs, und niemals hatte man wieder etwas von ihm gehört – ausser einmal, da kam er auf die abstruse Idee, an der Sonne zu lecken. «Er bekam eine Brandblase auf der Zunge und stiess einen solchen Schmerzensschrei aus, dass die Blumen unten auf der Erde verwelkten.» Solche Komik wird nie schal.

Astrid Lindgrens lustigstes Buch jedoch ist «Michel aus Lönneberga». Keine Sekunde lang kippt diese bäuerliche Welt der Kutschen und Schlachttage ins Heidihafte. Dies liegt nicht nur am Slapstick, sondern auch am handfesten Realismus. Gewalt ist kein Tabu. Der Höhepunkt des Markttages besteht in einer Schlägerei, bei der Michel mit einem Brotschieber kräftig draufhaut. Und dass man den Tischlerschuppen, in dem er nach jedem Streich seine Männchen schnitzen muss, auch von innen verriegeln kann, ist sein Glück. Draussen tobt der wütende Vater.

«Karlsson wollte nicht lieb sein»

Für alle Kinder, die den Erwachsenen mit ihren Streichen zeigen wollen, was in ihnen steckt, ist Michel eine realistische Identifikationsfigur. Pippi und Karlsson dagegen sind phantastische Gestalten und damit für jene Kinderwunschträume zuständig, die zu kühn sind für die Wirklichkeit. Kinder sehen sich kaum je in der Rolle von Pippi. Sie geniessen, wie Pippi die Erwachsenen doppelt kleinkriegt, mit Muskelkraft und Mundwerk, doch sie bleiben dabei in der Rolle von Thomas und Annika, diesen beiden grossen Zuschauern. Pippi und Karlsson sind keine Phantome: Auch Polizisten und Einbrecher müssen an sie glauben, und das ist für die literarische Wirkung entscheidend.

Mit Karlsson ist Astrid Lindgren noch einen Schritt weiter gegangen als mit Pippi. Während Pippi eine empfindsame Seele hat, für Gerechtigkeit sorgt und vor keiner heldenhaften Handlung zurückschreckt, ist von Karlsson keine einzige gute Tat überliefert. «Das ist einfach so geworden. Der Karlsson wollte nicht lieb sein», sagte Astrid Lindgren selbst.

Pippi ist gut, doch Karlsson ist weder gut noch böse. Er ist einfach Karlsson, ein Mann in seinen besten Jahren, «schön, grundgescheit und gerade richtig dick». Er ruiniert Lillebrors Dampfmaschine, isst alle Zimtwecken auf und verschwindet meist gerade dann, wenn man ihn am dringendsten gebraucht hätte. In seinem gefrässigen Egoismus ist er vielen Kindern unheimlich, denn er verkörpert das, was sie sich nicht zu sein getrauen. Im Buch nimmt der wohlerzogene, einsame Lillebror alles in Kauf und braucht es auch nicht zu bereuen. Denn der unverschämte Kerl mit dem Propeller auf dem Rücken und dem Häuschen auf dem Dach macht Lillebrors Leben reicher, abenteuerlicher und schöner – und das der Leser ebenso.

Realismus

Zum Glück ist Astrid Lindgrens Stil auch im Deutschen fassbar – den Übersetzern sei Dank. Denn ihr Kindheitsrealismus ist auch ein Realismus der Sprache – ihre einfachen, klaren Sätze erinnern an das, was Herta Müller einmal «Dorfsprache» genannt hat: «Die Dinge hiessen genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hiessen.» Bisweilen ist Astrid Lindgren in ihren Texten anwesend, doch sie macht davon kein Aufheben. Im Gegensatz zu der bemühten «direkten Ansprache» vieler Kinderbücher liegt darin keine Anbiederung. Sie begleitet uns nur ein Stück weit in die Geschichte. Man hat dann das Gefühl, sie habe ihre kindlichen Leser beim Schreiben vor Augen gehabt – und ihnen Wünsche erfüllt, von denen sie selbst nichts ahnten.

 

nzz | 12.11.07