Ich habe nur Bücher

Von Cees Nooteboom

 

Upstate New York, das Laub rot, golden, rostfarben, mein Amsterdamer Haus in weiter Ferne, meine Bücher dort in Selbstgespräche oder vielleicht auch Zwiegespräche vertieft, Proust mit Goethe, Benn mit Slauerhoff, wer weiss das schon, alles ist erlaubt, wenn der Herr aus dem Haus ist. Dieses Haus wurde im frühen 18. Jahrhundert erbaut, hat fünf Stockwerke und in allen Bücher. Hier scheint gerade eine winterliche Sonne, dort ist es jetzt Nacht. Zum ersten Mal in meinem Leben denke ich darüber nach, wie viele Seiten alle diese Bücher insgesamt wohl haben. Römische Rhetoren kannten einen Trick: Sie gliederten ihre Rede räumlich und schritten dann von Saal zu Saal durch den Palast ihrer Erinnerung – etwas Ähnliches muss ich jetzt auch versuchen, will ich beschreiben, wie meine Bibliothek, fünftausend Kilometer entfernt, aussieht. Aber habe ich denn überhaupt eine?

Anarchie

Vor zwei Monaten durfte ich in der Biblioteca Nacional in Madrid mit Alberto Manguel über «unsere» Bibliotheken sprechen, zumindest war es so vorgesehen. Aber ich kannte die seine, einen Palast von musterhafter Ordnung in einem ehemaligen Presbyterium, der Wirklichkeit gewordene Traum jedes Büchernarren. Im Vergleich dazu war meine Büchersammlung ein hoffnungsloses Chaos, ein ungebremst wuchernder Wildwuchs. In dem Versuch, den Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit zu erklären, sagte ich: «Alberto hat eine Bibliothek, ich habe nur Bücher.» Und so ist es. Mein altes Haus weigert sich aufgrund seiner Form – Treppenhäuser, labyrinthische Aufteilung, Halsgiebel, Spitzdach und weitere architektonische Erschwernisse –, mir mehr Raum für Bücher zu überlassen. Die Folge davon ist Anarchie, die Sprengung der alphabetischen Ordnung, eine bösartige Vermischung von Genres sowie Verzweiflung aufseiten des Besitzers, der seine Probleme, wie ein Süchtiger, mit jedem Tag nur noch grösser macht.

Ich will mit dem Keller beginnen. Er ist ganz aus Marmor, wie ich beim Kauf zu meiner Überraschung feststellte. Das Haus war teilweise ausgebrannt gewesen und hatte in den zurückliegenden Jahrhunderten so manches erlebt. Einst, lange vor unserer Zeit, war es vornehm gewesen, später hatten mehrere Familien darin gewohnt, und der Keller musste das Reich eines Heringshändlers gewesen sein. Jetzt lagert hier Wein, fast unerreichbar wegen der riesigen Bücherstapel – norwegische, bulgarische, koreanische, kroatische, kurzum: all die Bücher, die einem Schriftsteller zugesandt werden, sobald eines seiner Werke übersetzt worden ist. Es sind die eigenen Bücher, also wirft man sie nicht weg. Bulgaren und Koreanern läuft man selten über den Weg, folglich kann man die Bücher auch nicht verschenken, genauso wenig wie jene mit den leidenschaftlichen Widmungen griechischer oder portugiesischer Kollegen, die man vom soundsovielten Literaturfestival mit nach Hause bringt, wenn am letzten Abend die Verbrüderung zugeschlagen hat und jeder jedem ein Buch schenkt.

Lesen kann man sie meist nicht, aber ein signiertes Buch mit Widmung wirft man nun einmal nicht weg, allein schon weil man weiss, wie ärgerlich es ist, einem Buch, in das man eine Widmung geschrieben hat, bei einem Antiquar wieder zu begegnen. Gehören die Bücher in meinem Keller zu etwas, das man als Bibliothek bezeichnen könnte? Vielleicht nicht, und das Gleiche gilt, denke ich, auch für die nächste Etage, die Küche.

Wir sind ein paar Stufen hinaufgegangen, dorthin, wo zwischen Tonkrügen und kupfernen Kerzenleuchtern eine Vielzahl von Kochbüchern haust, von denen mir einige im Laufe der Jahre sehr ans Herz gewachsen sind. Die uralte Mrs. Beeton, der vornehme Henri-Paul Pellaprat, der unvermeidliche Pomiane mit seiner «Radio-Cuisine» aus der Vorkriegszeit, das kartonierte Buch mit seinen auf grobem Packpapier im Turiner Dialekt handgeschriebenen Rezepten, das kleine hektografierte, gelb eingebundene Eskimo-Kochbuch, das ich einmal aus dem Norden Alaskas mitgebracht habe und in dem jedes Seehundrezept mit dem Satz beginnt: «Man schlitze die Haut auf und entferne die Fettschicht», das französische Buch von 1870, auf dessen Namen ich hier nicht mehr komme, das viertausend Eisrezepte enthält und von einem ebenso mächtigen Kompendium mit Rezepten aus der Belle Epoque begleitet wird, die einen begreifen lassen, warum weder Flaubert noch Balzac noch Stendhal das Alter von 65 erreicht haben: Torten aus hauchdünnem Blätterteig mit vierundzwanzig Lammzungen, in acht Schichten übereinander und so illustriert, dass einem der Wahnsinn so richtig aufgeht. Und dann natürlich Elizabeth David, ohne die mein Leben anders ausgesehen hätte – und ich auch –, weil ihr «French Provincial Cooking» meine Bibel geworden ist, und der grosse Alan Davidson, der mit seinem «Mediterranean Seafood» und «North Atlantic Seafood» so ungefähr jedes existierende Synonym der Namen von Fischen und Schalentieren aufgespürt hat samt allen dazugehörigen Rezepten von der Türkei bis Island.

Genug! Eine halbe Treppe höher. Dort wohnt, wegen des enormen Gewichts und der vielen Bände bescheiden auf dem Fussboden, das grosse «Woordenboek der Nederlandsche Taal» von de Vries und te Winkel, Mitte des 19. Jahrhunderts von den beiden Herren begonnen und erst vor wenigen Jahren abgeschlossen. Einen Teil der Wörter kennt man schon jetzt nicht mehr, weil die Gegenstände, die sie bezeichnen, nicht mehr existieren, jedes Mal, wenn ich mich in diesen Seiten verirre, absolviere ich eine Zeitreise. Die Bände teilen sich den Raum mit Japan, mit allem, was ich von meinen Reisen dorthin mitgebracht habe: den Büchern von Lacadio Hearn, Büchern über Raku-Keramik, illustrierten Foujitas, Reiseerzählungen von Mönchen aus dem 13. Jahrhundert, der «Geschichte vom Prinzen Genji» in den Übersetzungen von Waley und Seidensticker, den Büchern Robert van Guliks – eine kleine Schatzkammer.

Eine Etage höher beginnt das, was ich vielleicht als meine richtige Bibliothek bezeichnen dürfte, wäre nicht ausgerechnet hier die alphabetische Ordnung auf der Strecke geblieben. Der erste Schrank enthält fremdsprachige Lyrik, einige hundert Bände mit all meinen Lieblingen, von Auden und Benn über Montale und Pessoa bis hin zu Wallace Stevens und Zagajewski. In den davor, auf dem Boden liegenden Stapeln habe ich einen Schein von Ordnung zu wahren versucht, und das gilt auch für die Bände der Dichter, die ich im Moment übersetze, wie zum Beispiel Michael Krüger und Cesar Vallejo – sie bilden eine Insel für sich.

Die beiden Schränke daneben versuchen krampfhaft, sich als echte Bibliothek zu gerieren, Thomas Mann steht im selben Regal wie Mary McCarthy, doch ihre Bücher müssen Paperbacks derselben Autoren auf und hinter sich dulden und blicken auf ständig wachsende Stapel zu ihren Füssen. Sie sind zu höflich, eine Bemerkung dazu zu machen, vielleicht weil sie das Problem noch von früher kennen. Schlimmer wird es weiter rechts (ich versuche noch immer, über diese Tausende von Kilometern hinweg in meine Schränke zu schauen). Dort sind ein paar merkwürdige Wucherungen entstanden. Als Erstes die glänzenden Pléiade-Bände: Borges und Voltaire neben neun Bänden Saint-Simon, die ich zu Ende gelesen haben will, bevor ich sterbe. Daran ist Proust schuld, der daneben wohnt und mich gelehrt hat, seine Memorialisten-Vorgänger zu goutieren, die vier Bände «Erinnerungen von jenseits des Grabes» von Chateaubriand und die bereits erwähnten «Mémoires» des alten Herzogs mit seinen Obsessionen in Bezug auf Rang und Herkunft am Hofe des Sonnenkönigs.

Proust selbst ist eine Stadt mit vielen Vorstädten, ihr Zentrum die mit meinen Notizen vollgekritzelten Taschenbücher aus der Folio-Reihe von Gallimard, die mich erzogen haben. Sie müssen die Nähe zweier anderer und höchst unterschiedlicher Helden dulden, Slauerhoff, jenen früh verstorbenen niederländischen Dichter und Schiffsarzt, den ich immer wieder lesen kann, und Nabokov, nicht nur mit seinen eigenen Büchern, sondern auch denen, die andere, wie etwa sein brillanter Übersetzer Dieter E. Zimmer, über ihn als Schmetterlingskundler geschrieben haben, eine Passion, die eigenartig mit den sehr alten Büchern direkt darüber harmoniert, dem Rest meiner einstigen Muschelbüchersammlung, wie zum Beispiel dem Gualtieri, einem florentinischen Buch von 1754 mit bizarren, fast grotesken Radierungen der wichtigsten Muscheln, daneben der «Amboinischen Raritäten-Kammer» von Rumphius mit den Namen aller Muscheln in Latein, Deutsch, Malaiisch und Niederländisch, und die gleichen Muscheln, handkoloriert, in «Donovan's British Shells» von 1804.

Bis unter das Dach

Wo sind wir jetzt? In der Mitte, wir müssen eigentlich noch zwei Treppen höher, aber ich bin am Ende der Wörter angelangt, die diese Zeitung mir eingeräumt hat. Dort steht die niederländische Literatur mit den Autoren, die Sie nicht wirklich kennen, wie Vestdijk, der über hundert Bücher geschrieben hat, zusammen mit Couperus und Hermans, Campert und Multatuli ein Kontinent, auf dem unendlich viel zu entdecken ist. Sie müssen noch etwas länger im Verborgenen blühen, wie auch die Lyrik von Lucebert und Kouwenaar, Andreus, Bernlef und Faverey, Terra (leider) incognita ausser für den wahren Liebhaber, der auch über die Grenze hinweg liest, denn von allen diesen Dichtern gibt es deutsche Übersetzungen.

Die nächste Treppe führt zu allem über Spanien, der Pilgerreise nach Santiago, der Kunst Zurbaráns und Velázquez', der romanischen Architektur des 11. Jahrhunderts, doch die Peitsche des Redaktors und der Zwang der wenigen Worte jagen uns weiter nach oben, ins Dachgeschoss, wo ich arbeite, links von mir Bühnenwerke von Brecht und Claus, Beckett, de Ghelderode und Calderón, neben mir ein Sammelsurium von Wörterbüchern, hinter mir die Reisebücher und Reiseführer, mitgebracht aus der halben Welt, von denen ich mich nicht trennen kann, und über mir – jetzt brauchen wir eine Leiter – der Boden, ein gleichschenkliges Dreieck, in dem die Literaturzeitschriften schlummern, die Sie nie lesen werden, mit Namen wie «De Gids», «De Revisor», «Tirade» und «Maatstaf», eine geheime Welt, die mich all die Jahre genährt hat.

 

nzz, 01.12.07