Das Lied für Deutschland

Von Ebert über Heuss bis Weizsäcker: Der lange Streit über die Nationalhymne / Von Rainer Blasius

 

Bundespräsident Heuss ließ sogar den 1. März 1952 verstreichen, ohne die längst überfällige Entscheidung über die Nationalhymne zu treffen. An diesem Tag wurde Helgoland an die Bundesrepublik zurückgegeben. Seit dem Kriegsende hatte Großbritannien die Nordseeinsel als Übungsziel für die Royal Air Force genutzt. Auf Helgoland hatte gut hundert Jahre zuvor Hoffmann von Fallersleben das "Lied der Deutschen" zu Joseph Haydns Melodie aus dem Kaiserquartett (der späteren österreichischen Kaiserhymne) gedichtet - am 26. August 1841, in einer Zeit, als Maas, Memel, Etsch und Belt ungefähr das Gebiet umrissen, in dem Deutsch gesprochen wurde, und als sich in "Deutschland, Deutschland über alles" die Sehnsucht nach einem geeinten, die Kleinstaaterei überwindenden Traumland äußerte. Zum ersten Mal bei einem Staatsakt erklang es am 9. August 1890 - bei der feierlichen Übergabe der bis dahin zu Großbritannien gehörenden Insel Helgoland an das 1871 gegründete Deutsche Reich (im Tausch gegen Sansibar).

 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das von Kaiser Wilhelm II. bei offiziellen Anlässen immer stärker bevorzugte "Lied der Deutschen" zum festen Bestandteil der Schulbücher geworden und zählte vor dem Ersten Weltkrieg zu den meistgesungenen Liedern im kaiserlichen Deutschland. Den Sprung zum Nationalsymbol und damit in den staatlichen Gefühlshaushalt schaffte es jedoch erst in der Weimarer und wieder in der Bonner Republik, und zwar jeweils "von ganz oben" verordnet.

 

Die nationale Weihe erhielt das Deutschlandlied in Verbindung mit dem vielfach umkämpften Ort Langemarck in der belgischen Provinz Flandern. Über ein äußerst verlustreiches Gefecht täuschte die Oberste Heeresleitung am 11. November 1914 durch folgende Meldung: "Am Yserabschnitt machten wir gestern gute Fortschritte . . . Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ,Deutschland, Deutschland über alles' gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie." Das war die Geburtsstunde des Langemarck-Mythos, der den Tod von schlecht ausgebildeten und schlecht geführten jugendlichen Kriegsfreiwilligen zum bereitwilligen Opfer für das Vaterland stilisierte.

 

Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs diente das Deutschlandlied auf einer Kundgebung als ohnmächtig-trotzige Reaktion auf die harten Friedenskonditionen, welche die Entente-Mächte den besiegten Deutschen auferlegt hatten. Am 12. Mai 1919 rief der Zentrumspolitiker Konstantin Fehrenbach, Präsident der Nationalversammlung und späterer Reichskanzler (1920/21), in der Aula der Berliner Universität: "Wie in glücklichen Tagen, so jetzt in dieser ernsten Stunde, bekennen wir uns zu unserem vaterländischen Hymnus. Er ist mißdeutet worden. Man hat gesagt, er sei eine Überhebung gegenüber anderen Völkern. Nein, das ist er nicht. Er ist nur der Ausdruck unserer innigen, gemütstiefen Liebe zu unserer Heimat. Er ist der Ausdruck der Verehrung für das Land unserer Väter."

 

Drei Jahre später - im Aufruf zum Verfassungstag am 11. August 1922 - führte der sozialdemokratische Reichspräsident Ebert die drei Strophen des Deutschlandliedes als Nationalhymne ein, konzentrierte sich aber in seinen begleitenden Bemerkungen auf den Inhalt der dritten Strophe: "Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Liede des Dichters gab im Zeichen innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck; er soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer besseren Zukunft begleiten." Auch Ebert sagte, das Lied solle "nicht dienen als Ausdruck nationalistischer Überhebung. Aber so, wie einst der Dichter, so lieben wir heute ,Deutschland über alles'." Um seiner unverbindlichen Proklamation, der die rechtliche Begründung durch den Reichstag fehlte, Geltung zu verschaffen, schlug Ebert einen Umweg ein. Am 17. August 1922 ordnete er als Oberbefehlshaber an: "Die Reichswehr hat das Deutschlandlied als Nationalhymne zu führen."

 

Ebert hatte mit der Einführung des Deutschlandliedes versucht, die Rechte und die Linke - die "Reaktionäre" und die "Novemberverbrecher" - miteinander zu versöhnen. Dazu kam es bekanntlich nicht, wenngleich Hitlers Chefpropagandist Goebbels bei der Inszenierung des "Tages von Potsdam" am 21. März 1933 in ganz anderem Sinne das Motiv der "Versöhnung des alten mit dem neuen Deutschland" aufnahm und das Deutschlandlied in den Mittelpunkt stellte. Es drang nun - wie ein Augenzeuge festhielt - "durch das eherne Dröhnen der Glocken von Potsdam jenes Lied, mit dem die Besten unseres Volkes auf den Schlachtfeldern des Krieges ihr Leben opferten für Deutschland, wie ein Schwur der Einigkeit". Wegen Langemarck hielt das "Dritte Reich" an der ersten Strophe des Hoffmann-Haydnschen Liedes fest und ergänzte es durch Horst Wessels primitiven Kampfgesang "Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert mit ruhig festem Schritt" - in Form einer "Doppelhymne" mit getragenem ersten und marschmusikmäßigem zweiten Teil.

 

Die nationalsozialistische Verknüpfung führte nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu dem Verbot vom 14. Juli 1945 durch den Alliierten Kontrollrat. Während sich der Parlamentarische Rat nicht mit der Frage einer Bundeshymne befaßte, tat sich einer der "Verfassungsväter", der CDU-Politiker und spätere Kultusminister von Rheinland-Pfalz, Albert Finck, in der dreijährigen Debatte über die dritte Strophe des Deutschlandliedes richtungsweisend hervor. Seine große Stunde schlug während eines Wahlkampfauftritts von Konrad Adenauer am 9. August 1949 - fünf Tage vor der ersten Bundestagswahl - in Landau. Zum Schluß der Veranstaltung ergriff Finck das Wort, verglich Adenauer als "Architekten des neuen Deutschland" mit Konrad II., dem "Baumeister" des Speyerer Doms, und forderte den überfüllten Saal auf, die dritte Strophe des Deutschlandliedes anzustimmen. "Wir singen unsere Nationalhymne", erklärte Finck unter Beifallsstürmen. Die anwesenden französischen Besatzungsoffiziere verließen die Halle.

 

Obwohl Adenauer in der Pfalz begeistert mitgesungen hatte, blieb die junge Bundesrepublik unter seiner Kanzlerschaft zunächst hymnenlos, weil der Vorschlag, zur feierlichen Eröffnung des Bundestages am 7. September 1949 das Deutschlandlied instrumental wiederzugeben, am Einspruch der SPD-Fraktion scheiterte. Doch schon am 29. September 1949 beantragte eine kleine Parlamentariergruppe um den Parteilosen Frank Ott, die Bundesregierung möge dem Bundestag "den Entwurf eines Gesetzes über die Anerkennung des ,Deutschlandliedes' in seiner ursprünglichen unveränderten Form als Bundeshymne" vorlegen.

Als Hymnenersatz kamen in den Kindertagen der Bonner Republik nicht nur Choräle zum Einsatz, sondern auch rheinische Karnevalsschlager wie "Heidewitzka, Herr Kapitän" oder "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien". Nachdem das alliierte Deutschlandlied-Verbot am 16. Dezember 1949 wiederaufgehoben worden war, behandelte das Bundeskabinett am 13. Januar 1950 den Antrag von Ott. Bundesjustizminister Dehler (FDP) empfahl, die Bundesregierung solle sich einfach auf den Standpunkt stellen, "daß die Proklamation der Bundeshymne zu den Prärogativen des Bundespräsidenten gehört". Auf diese Weise könne verhindert werden, daß sich das Parlament mit dieser Frage befasse.

 

Mehrheitlich vertrat das Kabinett die Auffassung, daß generell "aus innenund außenpolitischen Gründen zugewartet werden sollte". Der Minister für gesamtdeutsche Fragen, Kaiser (CDU), regte an, über die dritte Strophe des Deutschlandliedes mit Bundespräsident Heuss zu verhandeln. Der verfolgte allerdings als Gegner des Hoffmannschen "Irredentasanges" andere Pläne. Er wollte eine neue, historisch unbelastete Nationalhymne stiften, zumal die DDR bereits im November 1949 eine solche eingeführt hatte - mit einem Text von Johannes R. Becher und der Musik von Hanns Eisler. Im Moskauer Exil hatte Becher die drei Strophen des "Auferstanden aus Ruinen / Und der Zukunft zugewandt, / Laß uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland" gedichtet, rhythmisch passend zur Haydn-Melodie. Bechers Text durfte seit Beginn der Honecker-Ära nicht mehr gesungen, sondern nur noch die Eisler-Musik gespielt werden, weil "Deutschland, einig Vaterland" kein Ziel des SED- und Stasi-Regimes mehr umschrieb.

 

Heuss beauftragte den Lyriker Rudolf Alexander Schröder mit einer Neuschöpfung. Indessen unternahm Adenauer einen eigenen Vorstoß zugunsten des Deutschlandliedes. Auf einer Versammlung in Berlin forderte er am 18. April 1950 die Zuhörer auf, sich von den Plätzen zu erheben und mit ihm die dritte Strophe des Deutschlandliedes zu singen. Mitglieder des SPD-Parteivorstands verließen daraufhin den Titania-Palast, während die drei westlichen Stadtkommandanten einfach sitzen blieben. Der SPD-Vorsitzende Schumacher sprach von einem "Handstreich" des Kanzlers, Bundesminister Kaiser von einem "schönen Staatsstreich. Früher oder später hätte es doch geschehen müssen."

Im Mai 1950 war das Schrödersche Opus fertig und der über den Alleingang Adenauers empörte Heuss von der "Hymne an Deutschland" begeistert. Die erste Strophe lautete: "Land des Glaubens, deutsches Land, / Land der Väter und der Erben, / Uns im Leben und im Sterben / Haus und Herberg, Trost und Pfand. / Sei den Toten zum Gedächtnis, / den Lebend'gen zum Vermächtnis / Freudig vor der Welt bekannt, / Land des Glaubens, deutsches Land." Nach einem ersten, kläglich gescheiterten Kompositionsversuch bat Heuss am 27. September 1950 Carl Orff, der durch "Carmina burana" (1937) weltberühmt geworden war, um die Vertonung der Schröder-Dichtung. Jedoch winkte der Münchener Meister ab und verriß das Opus von Schröder mit wohlgesetzten Worten statt mit Tönen. Der Text sei "von so starker geistiger Verhaltenheit, daß es schwer sein wird, ihn irgendwie zu vertonen". Nach Meinung des Komponisten mußte erst einmal ein geeigneter Text gefunden werden: "Ich sage gefunden, nicht geschaffen, denn letzteres scheint mir fast aussichtslos." Außerdem regte er eine weitere Suche danach an, "ob sich nicht in unserer unsterblichen Klassik (Mozart oder Beethoven) ein Satz fände, der neben Haydn standhielte". Und für alle anderen Fälle empfahl Orff den Frankfurter Kollegen Hermann Reutter, "einen ausgezeichneten, mit hymnischer Ausdruckskraft begabten Musiker".

 

Das Geschenk des Bundespräsidenten an die Deutschen, die Schröder-Reutter-Hymne, erklang am Silvesterabend 1950 über die bundesdeutschen Radiosender erstmals öffentlich. Heuss versicherte zuvor in seiner Ansprache, daß er das neue Lied nicht sogleich zur Nationalhymne erklären wolle, "da dies den Vorwurf des ,Anbefohlenseins' mit sich bringen könnte". Das war durchaus weitsichtig, denn die Auftragsarbeit stieß in der Bundesrepublik überwiegend auf Ablehnung: Von "Theos Nachtlied" und dem "schwäbisch-protestantischen Nationalchoral" war die Rede, und der Dichter Gottfried Benn höhnte über den "vielleicht etwas marklos" wirkenden Text: "Der nächste Schritt wäre dann ein Kaninchenfell als Reichskriegsflagge."

In diesen Monaten wurde das Präsidialamt überhäuft mit "mannigfaltigen Versuchen, auf die Haydnsche Melodie einen neuen Text zu stülpen", was das Staatsoberhaupt für aussichtslos hielt. In den Beständen des Bundesarchivs in Koblenz finden sich Hunderte von Eingaben zur Umdichtung - beispielsweise "Frieden, Freiheit über alles, über alles in der Welt, wenn zu ihrem Schutze künftig ein Volk zu den anderen hält" - "Deutschland, Deutschland, unser Alles, Schutz und Hort auf dieser Welt" - "Deutschland, Deutschland, liebe alles, liebe alles in der Welt, so wird aber alles alles immer so zum deutschen Feld" - "Deutschland, Deutschland, über alles lieb ich Dich mein Vaterland, Wenn Du auch vom Sturm zerrissen, bleibst Du doch mein deutsches Land" - "Deutschland, Deutschland hoch in Ehren überall einst in der Welt, bis durch Unvernunft das hehre Friedensglück zerbricht, zerfällt".

 

Bundesverkehrsminister Seebohm, Adenauers Koalitionspartner von der stark national ausgerichteten Deutschen Partei (DP), in der anfänglich noch monarchische Tendenzen lebendig waren, schaltete sich auf einer Großkundgebung in Hoffmanns Geburtsstadt Fallersleben in den Hymnenstreit zwischen Adenauer und Heuss ein - mit einem kraftvoll geschmetterten "Deutschland, Deutschland über alles". Ihm folgte der Staatssekretär im Bundesministerium für Bundesratsangelegenheiten, von Merkatz (DP), am 21. August 1951 im Kabinett mit der Feststellung, daß seine Partei "an dem gesamten Text des Deutschlandliedes als Nationalhymne festzuhalten beabsichtige. Der Bundeskanzler weist demgegenüber darauf hin, daß die erste und zweite Strophe nicht gut in die gegenwärtige Zeit hineinpasse und die Deutsche Partei sich deswegen die Dinge noch einmal überlegen sollte."

 

Heuss ließ sich nicht einmal durch den Hinweis auf die bevorstehenden Olympischen Winterspiele in Oslo unter Druck setzen. Er bremste weiter und sah sich - laut Kabinettsprotokoll vom 22. Januar 1952 - außerstande, eine Entscheidung zu treffen, zumal das Norwegische Olympische Komitee ihn über diplomatische Kanäle gebeten habe, gegen das Deutschlandlied zu intervenieren. Erleichtert war er schließlich darüber, daß Siegerehrungen mit Schiller/Beethovens "Ode an die Freude" bestritten wurden. Die "Freude, schöner Götterfunken"-Regelung bei Olympischen Spielen galt bis Ende der sechziger Jahre. Erst 1968 in Grenoble und MexikoCity traten die beiden deutschen Staaten getrennt und damit mit der je eigenen Hymne an.

 

Am 22. Januar 1952 sprach sich der Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates, Hellwege (DP), nachdrücklich "für sämtliche Strophen des Deutschlandliedes" aus, so daß Heuss am 24. Januar in einem langen Schreiben an den "Sehr geehrten Herrn Bundeskanzler" grundsätzlich Stellung nahm. Er erinnerte an ein Gespräch mit dem SPD-Vorsitzenden Schumacher, der "gegen Hoffmann von Fallersleben wie gegen R. A. Schröder gleich negativ" eingestellt gewesen sei. Er, Heuss, habe erkannt, daß die vier Regierungsparteien CDU, CSU, DP und FDP das Deutschlandlied wünschten; daher könne er "nicht Propagandist in einer offenbar mir mißglückten Sache" werden. Politisch wichtig sei jetzt, "ob es gelingt, die SPD und den DGB zum mindesten zu einer neutralen Haltung in dieser Frage zu gewinnen". Geklärt werden müsse auch, "ob nur die dritte Strophe oder das ganze Lied neu belebt werden soll". Generell hoffe er, daß die "Wiedererweckung" des Deutschlandliedes nicht zu einer Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze führe. Nach Klärung aller "Vorfragen" sei er zu einer feierlichen Verkündung nicht bereit: "Das ist kein enttäuschter oder gekränkter Eigensinn, wie wohlmeinende Leute glauben. Aber ich habe, soweit die Eigenentscheidung frei war, immer Wert darauf gelegt, nicht Dinge zu tun, die meiner Auffassung und meinem Wesen widersprechen."

 

Das Staatsoberhaupt entwarf schließlich selbst den Schriftwechsel mit Adenauer, über den der Bundeskanzler das Kabinett am 29. April 1952 vorab unterrichtete. Auf diesen Tag ist Adenauers Brief an Heuss datiert - mit dem "pflichtgemäß" vorgetragenen Wunsch der Bundesregierung, das Hoffmann-Haydnsche Lied "als Nationalhymne anzuerkennen. Bei staatlichen Veranstaltungen soll die dritte Strophe gesungen werden." Mit der Antwort vom 2. Mai 1952 kam Heuss der "Bitte" der Bundesregierung nach; er müsse jedoch nach seiner "Natur auf eine ,feierliche Proklamation' verzichten". Kurz vor Paraphierung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (9. Mai 1952) sowie vor der Unterzeichnung des "Generalvertrages" über die Gestaltung der Beziehungen zu den Westalliierten (26. Mai 1952) - beides wichtige Schritte auf dem Wege der Bundesrepublik zur (Teil-)Souveränität - hatten die Westdeutschen endlich eine eigene Hymne, die an die Weimarer Republik anknüpfte und zudem den Anspruch verdeutlichte, für das ganze Deutschland - einschließlich der "Sowjetzone" - eintreten und international sprechen zu wollen.

 

Der vom Bundespresseamt als "schlichter Briefwechsel" bezeichnete Einführungsakt wurde am 6. Mai 1952 veröffentlicht - mit dem mündlichen Hinweis aus dem Präsidialamt, daß als Nationalhymne alle drei Strophen des Deutschlandliedes anerkannt seien, unabhängig von der Absicht des Regierungschefs, bei "staatlichen Veranstaltungen" nur die dritte Strophe zu singen. Verkehrsminister Seebohm erklärte daraufhin am 16. Mai 1952 dem Bundespräsidenten, warum er dessen Neuschöpfungspläne abgelehnt habe: "Hauptsächlich deshalb, weil ich im Gedanken an die heimatvertriebenen deutschen Menschen und insbesondere an diejenigen, die ihren Wohnsitz und ihre Heimat außerhalb der Grenzen des Bismarckschen Reiches hatten, wußte um die innere Verbindung gerade dieser Menschen zu dem Lied von Hoffmann."

 

Die internationale Presse stand der Wiedereinführung des Deutschlandliedes überwiegend kritisch gegenüber. Die amerikanische Zeitung "Atlanta Constitution" titelte sogar mit "Alter Hitlerschrei wird Nationalhymne". Verständnis brachte dagegen die französische Zeitung "L'Aurore" auf, und zwar gerade wegen des Langemarck-Mythos: "Wäre es nicht Wahnsinn, einem Volk das Lied verbieten zu wollen, das Millionen von Soldaten unter dem Geschoßhagel angestimmt und das viele noch im Sterben geflüstert haben? . . . Das wäre die schlimmste Demütigung."

 

Natürlich ließ sich die altbekannte und mißverständliche erste Strophe mit der Regelung von 1952 nur aus dem staatlichen Handeln, nicht aber aus dem "privaten Gebrauch" verbannen. Daher war es keine Überraschung, daß sie 1954 nach dem Endspielsieg bei der Fußballweltmeisterschaft in Bern durchbrach. Die siegestrunkenen deutschen Fans grölten "Deutschland, Deutschland über alles", was die "Bunte Illustrierte" auf die Idee brachte, ein Preisausschreiben zu veranstalten: Preise von insgesamt 5000 Mark warteten auf diejenigen, die für die Zeilen "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt" würdige Alternativen reimten. Sogar die Tochter eines hohen Diplomaten nahm teil - wie der stolze Herr Papa dem Präsidialamt berichtete. Sie dichtete "Von der Saar bis an die Memel, von dem Dachstein bis zum Belt", um so "das ganze Volk immer wieder auf die beiden offenen Wunden Saar und Ostdeutschland (Memel) hinzuweisen". Die erste Zeile sollte lauten: "Deutschland lieb' ich über alles, über alles in der Welt."

 

Der Bundespräsident war über die Initiative des Offenburger Verlegers, die das leidige Nationalhymnenthema wieder aufwärmte, sehr verstimmt. Heuss schrieb ihm am 7. August 1954: Es sei eine "sehr harmlose Auffassung zu glauben, daß mit einem Regierungsedikt historisch geformte Verse abgeschafft werden könnten. Falls irgendeines der Resultate Ihres Wettbewerbs von Ihnen oder irgendeinem Kreise propagandistisch ins Bewußtsein der Deutschen getragen werden sollte, so wird beim Absingen des Liedes todsicher eine Konkurrenz der stärkeren Stimmen für die verschiedenen möglichen Texte sich abspielen."

 

In der "alten" Bundesrepublik stritten Bildungspolitiker und Gewerkschaftsfunktionäre in den siebziger Jahren darüber, ob Schüler noch alle drei Strophen des Deutschlandliedes kennen sollten. Und Juristen diskutierten in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre sogar, ob das Deutschlandlied durch das 1952 gewählte Verfahren überhaupt mit Recht Nationalhymne sei. Dann kam es plötzlich zu einer wahren Renaissance des Liedes, ja es wurde vorübergehend zu einem nationalen Hit, als ausgerechnet im Jubeljahr des vierzigjährigen Bestehens der beiden deutschen Teilstaaten die nur noch äußerst selten beschworene Einheit durch den Zusammenbruch des Ostblocks und durch den Willen der "Brüder und Schwestern" in der DDR zum Greifen nahe war. Am 9. November 1989 - als die Schandmauer zwischen beiden deutschen Staaten zwar noch nicht fiel, aber plötzlich durchlässig wurde - standen die Abgeordneten des Bundestages als Reaktion auf die Mitteilung, daß die Regierung in Ost-Berlin "praktisch erstmals Freizügigkeit für die Deutschen in der DDR hergestellt" habe, auf und stimmten "Einigkeit und Recht und Freiheit" an. Am Abend des 10. November sangen der Sozialdemokrat und Altkanzler Brandt und der Christdemokrat und Kanzler Kohl Seite an Seite vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin. Und auch am 3. Oktober 1990 beschloß "Einigkeit und Recht und Freiheit" die Feier zur deutschen Einheit vor dem Reichstag in Berlin.

 

Daneben gab es Initiativen, das vereinigte Deutschland mit einem eigenen Bundeslied zu beglücken - etwa durch Bertolt Brechts Kinderhymne "Anmut sparet nicht noch Mühe, / Leidenschaft nicht noch Verstand, / Daß ein gutes Deutschland blühe, / Wie ein andres gutes Land" (mit der Beethoven-Melodie von "Freude, schöner Götterfunken") oder durch die Verschmelzung von Becher-Hymne mit dritter Hoffmann-Strophe (zur bewährten Haydn-Musik). Bechers Dichtung - aus der Sicht der Adenauer-Zeit die "Spalterhymne Pankows" - war durch die von demonstrierenden Oppositionellen während des DDR-Untergangs herausgestellte Zeile "Deutschland, einig Vaterland" zum politischen Programm und fast zu einem konkurrierenden "Einheitslied" geworden.

 

Nun erinnerten sich unmittelbar nach dem Umzugsbeschluß von Bonn nach Berlin die politischen Enkel Adenauers daran, wie in Deutschland seit siebzig Jahren die Frage der Nationalhymne entschieden wurde - stets auf der präsidialen Ebene, stets ohne Mitwirkung des Parlaments. Die von Ebert und Heuss angewandte Praxis kam zum dritten Mal - schon als Gewohnheitsrecht betrachtet - zur Anwendung. Als hilfreich erwies sich dabei, daß der Bundestag am 9. November 1989 in Bonn die Hymne von "Einigkeit und Recht und Freiheit" in "überraschender Einmütigkeit" und in "angemessener Weise als Nationalsymbol bestätigt" hatte (so der Rechtshistoriker Hans Hattenhauer); außerdem hatten Aufständische des 17. Juni 1953 das in der DDR verbotene Lied gesungen.

 

Bundespräsident von Weizsäcker und Bundeskanzler Kohl tauschten nach dem Vorbild von 1952 Briefe über die Nationalhymne aus. Weizsäcker schrieb am 19. August 1991, daß sich die dritte Strophe des Hoffmann-Haydnschen Liedes als Symbol bewährt habe und "die Nationalhymne für das deutsche Volk" sei. Kohl erwiderte am 23. August 1991: "Der Wille der Deutschen zur Einheit in freier Selbstbestimmung ist die zentrale Aussage der 3. Strophe des Deutschlandlieds. Deshalb stimme ich Ihnen namens der Bundesregierung zu, daß sie die Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland ist." Zum 150. Jahrestag der Entstehung des Hoffmann-Textes wurde die Adenauer-Heuss-Entscheidung, der ein Kompromiß in einer Koalitionsregierung zugrunde gelegen hatte, auf diese Weise konkretisiert und unmißverständlich nur der dritten Strophe die Qualität der Nationalhymne zuerkannt.

 

Kohl konnte damit als "Kanzler der Einheit" in der Nationalhymnen-Frage umsetzen, was sein politischer Ziehvater Finck am 9. August 1949 angestoßen, was er selbst als 19 Jahre alter Zuhörer beim Adenauer-Besuch in Landau miterlebt hatte. Finck hatte damals in einem Zeitungsartikel vorsichtig vom "provisorischen Bundeslied" gesprochen: Die "Verkündung einer endgültigen Nationalhymne" müsse jener Zeit vorbehalten bleiben, "in der Gesamtdeutschland beisammen" sei.

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.04.2002, Nr. 99 / Seite 8