Verwunderlich ist, was Habermas über etwaige Gespräche Unselds mit Dritten sagt. Er glaubt nicht, dass Unseld in solchen Gesprächen die Parteimitgliedschaft angesprochen hat. Da Unseld sie Habermas gegenüber nicht erwähnte, hätten andere Mitglieder des engeren Kreises, hätte Unseld ­ihnen das Geständnis gemacht, zu Habermas darüber nicht sprechen können, ohne Unselds Vertrauen zu brechen. Woher also die Gewissheit, dass das Thema nie Thema war? Offensichtlich meint Habermas, dass es für Unseld keinen Grund gegeben habe, über die Sache zu sprechen. Sollte das auf jede einzelne Zweierkonstellation von Autor und Verleger zutreffen?

Da waren zuerst die Verfolgten und Überlebenden. Unseld war stolz ­darauf, George Steiner eine deutsche Übersetzung von dessen Hitler-Roman ausgeredet zu haben. Louis Begley hat 2002 nach Unselds Tod in der F.A.Z. berichtet, dass er bei der ersten Begegnung mit seinem späteren Verleger unter dem Eindruck von dessen Persönlichkeit davon absah, ihn zu fragen, was er im Krieg getan hatte. Es mag eine Art von Rücksicht gewesen sein, wenn Unseld nicht von sich aus darüber sprach. Im Verhältnis zu anderen Autoren wäre der schambelastete Stoff dagegen Teil eines geteilten Erfahrungshintergrundes gewesen. Martin Walser erzählt in seinem Roman „Ein springender Brunnen“ vom Parteieintritt seiner Mutter. Bei der Buchvorstellung in der Deutschen Bibliothek im Oktober 1998 führte Unseld seinen Autor ein. Der Verleger verbürgte sich für die Authentizität von Walsers Erzählung – durch Beschwörung der literarischen Qualität. Er hätte die Möglichkeit gehabt, dem Frankfurter Publikum zu sagen, warum er wusste, wovon Walser schrieb. Und was soll ihn davon abgehalten haben, das ohne Zuhörer wenigstens dem Autor zu offenbaren?

Wenn Habermas ein solches Sze­nario für unrealistisch hält, will er ­Unseld nicht zum pathologischen Fall stempeln. Ganz im Gegenteil behandelt er den Fall als einen allgemeinen, bringt ein Muster nachvollziehbaren Verhaltens in Anschlag. Niemand wusste von Unselds Parteimitgliedschaft – also musste nicht darüber gesprochen werden. Das erinnert frappant an ein Modell, das ein Fachkollege von Habermas zum Verständnis des Umgangs mit biographischen Handicaps nach 1945 vorgeschlagen hat – und weicht nicht weniger frappant davon ab. Hermann Lübbe stellte 1983 in einem Vortrag zum fünfzig­sten Jahrestag der Kanzlerschaft Hitlers die These auf, dass der demokratische Neuanfang nach 1945 durch ein „kommunikatives Beschweigen“ in­dividueller Belastungen möglich gewesen sei, und zwar deshalb, weil kein Enthüllungsbedarf bestand. In kollegialen Zusammenhängen (Lübbe wählt seine Beispiele aus der universitären Lebenswelt) wusste typischerweise jedermann von der Parteimitgliedschaft der Ex-Nazis – also musste nicht darüber gesprochen werden.

Lübbes in der F.A.Z. gedruckter Vortrag rief heftigste Kritik hervor, die ihn zu einem Plädoyer für fortgesetztes Beschweigen und Kleinreden verzerrte. In der Publizistik von Habermas setzte die geschichtspolitische Phase, in der er 1986 den „Historikerstreit“ auslöste, 1985 mit einem Aufsatz gegen „Entsorgung der Vergangenheit“ ein, der mit Lübbe beginnt. Das „Fatale“ bei Lübbe sah Habermas, wie er in einem Interview erläuterte, in der Entwertung des Aufklärungseifers der Achtundsechziger. Er selbst habe schon 1953 in der F.A.Z. über Martin Heideggers Vorlesungen von 1935 geschrieben, weil er „entsetzt war über die Unfähigkeit“ von „Protagonisten“ der Kultur, „we­nigs­tens mit einem Satz einen politischen Irrtum einzubekennen“. Wenn Habermas mit seinem heutigen Wissen bei Unseld einen solchen Satz nicht vermisst, übernimmt er den Standpunkt, den Lübbe 1983 als „Common sense“ verteidigte: Die Abkehr vom Nationalsozialismus erfolgte in der Praxis, weil sie sich moralisch von selbst verstand.

faz, 11.04.25

 












letzte kommentare:

Coole Idee
zotty | Di. 6. Mai 2025 10:57
Hauptsache ist ja, das sie ...
zotty | So. 4. Mai 2025 01:23
Auch von mir gute Besserung ...
DieWaldfee | Di. 29. Apr. 2025 21:12
Gute Besserung und Heilung!
liuea | Di. 29. Apr. 2025 19:02
Gute Genesung!
bubo | Di. 29. Apr. 2025 12:54
"Er ist Ironman.",sagt die kleine ...
zotty | Fr. 25. Apr. 2025 14:36
❣️
zotty | Mi. 23. Apr. 2025 01:00
Schick
zotty | Sa. 12. Apr. 2025 15:40
Eine Ü-50-Uhr!
p.m. | Sa. 12. Apr. 2025 07:04
Und immer noch schade kein ...
liuea | Do. 3. Apr. 2025 19:14
in eickel eher ›survival of ...
exdirk | Sa. 29. März 2025 17:09
Rauchen kann Ihrer Gesundheit schaden ...
zotty | Sa. 29. März 2025 13:07
Das freut mich wirklich.
zotty | Fr. 28. März 2025 03:46
Fühl dich gedrückt. Manchmal fällt einem ...
zotty | Di. 25. März 2025 11:08
Wünsche Gesundheit! Und erträgliches Essen.
Lakritze | So. 23. März 2025 21:06


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