cees nooteboom: ich habe nur bücher [nzz]

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Die sonnige Luft war erfüllt vom wettstreitenden Lärm der Radios und Phonographen in den Türen der Drugstores und Musikgeschäfte. Vor diesen Türen drängten sich den ganzen Tag die Leute und lauschten. Die Stücke, die es ihnen angetan hatten, waren Balladen von schmerzlichem Verlust, von Vergeltung und Reue, ganz simpel in Melodie und Thema, metallisch gesungen, verwischt und verzerrt von Nadelgeräusch oder atmosphärischen Störungen - entkörperte Stimmen, die aus holzimitierten Truhen oder marmorierten Trichtern über die verzückten Gesichter wegplärrten, weg über die knorrigen, langsamen Hände, die sich lang schon nach der mächtigen, herrischen Erde geformt hatten, kummervoll, rauh und traurig.

william faulkner: die freistatt

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Die schwarzrockigen Herren, die in den Kammern der kaiserlichen Burg herumgingen, berieten viel über die äußerlichen Zeichen der Ketzerei. Ein Theologe namens Eymericus hatte angegeben, bleiche Gesichtsfarbe kennzeichne den Ketzer, wilde Blicke den Zauberer. Man erwog die vorbildliche General- und Spezialinstruktion des bayrischen Kurfürsten für den Hexenprozeß: es dürfe keiner, der einmal bekannt hatte unter der Folter, zum Widerruf zugelassen werden; man fand nicht genug Worte für diese weise Verfügung. Denn wie sinnlos sei es, nachdem mit der Gewalt der Folter der Widerstand des Fleisches endlich überwunden sei, das besessene Fleisch mit dem Nachlaß des Drucks noch einmal reden und natürlich widerreden zu lassen. Wie würde der Teufel über solche Albernheiten wiehern!

döblin: wallenstein

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Langsam und sehr konzentriert schreibt er die vier Worte an die Tafel: "Ich habe jetzt Arbeit." Korrekt und fehlerfrei, in der Schrift eines Erstklässlers. Bedächtig dreht Achim sich zur Klasse um, und jeder hier im Raum weiß, welche Bedeutung für den hochgewachsenen Mann in diesem Satz liegt. Noch vor knapp einem Jahr hätte er ihn zwar aussprechen, aber nicht schreiben können. Denn der 39-Jährige gehörte zu den rund 4 Millionen Analphabeten in Deutschland.

wdr

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Dieses Zwitschern Fragen Horchen am Hofe. Herübergeholt die Meisterköche aus Wien mit dem Stab der Pastetenbäcker, Zuckerküchler, Erbauer der Riesentorten; auftauchte die Schar der Truchsesse Vorschneider Mundschenke Kredenzer. Mit dem schwarzen Stab spazierte zur Musik herein der Oberstabmeister vor den dunstumhüllten Speiseträgern. Auf den Tafeln vor den zerreißenden Menschenzähnen das getötete Getier des Waldes, das singende fliegende tänzelnde, Auerhahn Schwan Pfau weißer Reiher Kranich roter Fasan. Zuckerbrot Marzipan Sülzen. Inmitten der überflutenden Leckereien auf der Tafel die weiße Pyramide, um die die vier Elemente saßen; Fortuna goldgelockt, purpurgekleidet auf einer Kugel, die unter ihren spitzen Zehen rollte. Gemisch der Nationen an den Tafeln, erfreute Münder, erbitterte Stirnen; der Deutsche vertrinkt den Schmerz, der Italiener verschläft den Schmerz, der Spanier beklagt den Schmerz, der Franzose besingt den Schmerz. Musik: wer weiß, was Schmerz oder Freude ist. Feuerwerk Ballett Stechen Jagden Frühstück.

döblin: wallenstein

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Er hatte seine Frau beerdigt. Und da er sich im bürgerlichen Leben nicht gefestigt fühlte, erschreckte ihn der Akt der Grablegung, so wie ihn auch Kindtaufen und Hochzeiten entsetzten und jedes Geschehen zwischen zwei Menschen, wenn die Öffentlichkeit daran teilnahm und gar noch die Ämter sich einmischten. Dieser Tod schmerzte ihn, er empfand tiefste Trauer, würgenden Kummer, als der Sarg in die Erde gesenkt wurde, das Liebste war ihm genommen, und wenn auch das Wort durch Millionen Trauerkarten glücklicher Erben entwertet war, ihm war das Liebste genommen, die Geliebte wurde verscharrt, und das Gefühl für immer für immer verloren ich werde sie nicht wiedersehen nicht im Himmel und auf Erden ich werde sie suchen und nicht finden das hätte ihn weinen lassen, aber er konnte hier nicht weinen, obwohl ihn nur Frau Wilms auf dem Friedhof beobachtete. Frau Wilms war seine Aufwartefrau. Sie überreichte Keetenheuve einen Strauß geknickter Astern aus dem Schrebergarten ihres Schwagers. Zur Hochzeit hatte Frau Wilms einen ähnlichen Strauß geknickter Astern gebracht. Damals sagte sie: »Sie sind ein schönes Paar!« Jetzt schwieg sie.

wolfgang koeppen: das treibhaus*

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Steve Bach: Leni. The Life and Work of Leni Riefenstahl.
Alfred A. Knopf, New York 2007. 388 Seiten, 30 US-Dollar.

eine kritik

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Rotten tasteten sich hungernd im Land herum vom Harz her bis nach Schwaben; während manche sich stumpf forttrieben, verfielen andere einem Götzendienst, flüchteten verwildert zu Wald und Flurgeistern, Kobolden, Marzebillen, Wildschützen, Moosweibchen, schlichen gedrückt um Kreuzessäulen. Wo das Gesindel in die Städte hereinverschlagen wurde, wurde es wieder herausgepeitscht. Gerüchte von Kreuzschändung, Ausübung todbringender Malefize schleppten sie mit sich; man hing es ihnen an, aber vor manchen Städten wurden viele belauert, umstellt, nach kurzem Verhör aufgeknüpft, auch gerädert.

Wie anklagende Chöre erschienen Menschenscharen immer häufiger vor den Toren der größeren Städte; hinter ihnen her ritten Abgesandte ihrer Bischöfe Herren Fürsten, drohend, sie sollten an ihr Werk gehen, auf die Äcker, an die Mühlen, in die Bergwerke, warnend vor der Abwanderung. Sie wollten immer zum Kaiser, wußten nicht wozu. Der Kaiser war mächtig, seine Armada mächtig, er solle Frieden machen. Unterwegs sagten sie sich vor, was sie bedrückte: Kriegslasten auf ihren Schultern, Getreideabgaben, Abgaben für Fallholz, Schweinehafer, Kapaun, Kleinvieh, der dritte Pfennig vom Gemeindeholz, der kleine Zehnt, Salzsteuer, Brennöfen, Mühlen, Wegzoll, Jagdgeld, Marktgeld, Siegelgeld, Heiratsabgaben. Lachten, der Kaiser ist mächtig, er wird noch mehr können als dies.

döblin: wallenstein

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aus einer buchbesprechung der nzz:

... in ihrer neuen Studie, die 2004 erschienen ist und nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt, versucht sie, über Einzelschicksale hinauszugehen und den Hexenwahn auf die Nöte der Gesellschaft, die psychischen wie auch die materiellen, zurückzuführen. Entstanden ist eine spannungsvolle, dichte Erzählung über Menschen, die aus Angst kein Mitleid mehr kannten, geschildert am Beispiel des frühneuzeitlichen Süddeutschland.

Süddeutschland erlebte im 16. und 17. Jahrhundert massive Hexenjagden, die mehr Opfer forderten als anderswo; insgesamt wurden hier schätzungsweise neuntausend Menschen als Hexen hingerichtet. In Städten und Dörfern kam es zu Hexenpaniken; Katholiken wie Protestanten beschuldigten ihre Nachbarinnen und Verwandte der Hexerei, wie Roper ausgehend von Prozessen in Marchtal und Würzburg, Nördlingen und Augsburg zeigt. Mehr noch als etwa in Frankreich waren es in Deutschland zu einem grossen Teil Frauen, die Hexenjagden zum Opfer fielen. So konzentriert sich Roper vor allem auf diejenigen Phantasien, die mit Weiblichkeit zu tun haben.

Ropers wichtigste Quelle zur Ergründung der Phantasien sind Geständnisse, die der Hexerei bezichtigte Frauen vor Gericht ablegten ...

klingt spannend. da könnte man bestimmt auch einen sehr schönen leseabend mit musik draus machen.


Lyndal Roper: Hexenwahn. Geschichte einer Verfolgung. Aus dem Englischen von Holöger Fock und Sabine Müller. Verlag C. H. Beck, München 2007. 460 S. mit 66 Abbildungen

mit meiner vorleser-kollegin gesprochen: das sei eine gute idee | wir wollen das zum internationalen frauentag 2008 anbieten; als deko auf der bühne dann ein scheiterhaufen.

edit do_11:35

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🤭 🙈🖖
zotty | Fr. 12. Dez. 2025 10:11
Einer von den kleinen Steinen ...
Lakritze | So. 7. Dez. 2025 08:37
Welche Bauhöfe?
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Vermutlich gibt es dafür eine ...
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Wird auch Zeit
DieWaldfee | So. 31. Aug. 2025 13:01
Jaja, die Schriftstellerei und der ...
bubo | Do. 28. Aug. 2025 22:30
Eigentlich nix. War nur ein ...
stapel | Mi. 9. Juli 2025 13:14
jau
exdirk | Di. 24. Juni 2025 23:09
Und? Schon wieder daheim?
zotty | Di. 24. Juni 2025 17:23
😎
zotty | Di. 24. Juni 2025 07:16
Uff…
liuea | Sa. 21. Juni 2025 10:22


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